Von den Wissenschaften
Wie vielleicht der eine oder andere weiß, habe ich zwei Fächer studiert: Einmal Lebensmittelchemie und einmal Softwaretechnik. Ich bin recht vielseitig interessiert, wie man ja auch an meiner Website sieht, die sich auch mit Raumfahrt interessiert. Schon früher habe ich mir Lehrbücher über Ernährungslehre und Biochemie besorgt, Gebiete die nicht zur Lebensmittelchemie gehören, aber doch ganz gut zum Verständnis sind und Vorlesungen in Biochemie, Wasserchemie und Toxikologie besucht.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die Theorie eines Fachs recht gut aus Lehrbüchern beziehen kann. Die Theorie ist nur ein Teil, dessen was man Wissen muss. Softwaretechnik ohne selbst zu Programmieren, ist weitgehend sinn frei, genauso Chemie ohne Laborpraktika. Aber es gibt Wissenschaften die weitaus mehr Theorie und weitaus weniger Praxis enthalten. Zum Beispiel Geistes- und Wirtschaftswissenschaften. Nun habe ich mir gedacht "Bernd, es wird Zeit was neues zu beginnen" und habe mir ein gut bewertetes und viel gekauftes Lehrbuch über Psychologie gekauft.
Schon nach den ersten Seiten war mir klar, dass zumindest dieses Buch ein "Laberbuch" ist, also eines mit einem geringen Informationsgehalt. Das fängt schon damit an, dass einige Seiten folgen in denen der Leser darüber aufgeklärt wird, wie er das Buch zu lesen hat und was er daraus ziehen kann.
Das ist ein Riesenunterschied zu dein Lehrbüchern über Chemie die ich kenne. Die waren vollgespickt mit Information, die konnte man nicht so einfach mal durchlesen. Gewundert hat es mich dann nicht, als ich durch das Buch erfuhr, dass Psychologie eine Sozialwissenschaft ist. Ich hielt es für einen Zweig der Medizin. Ich habe mein Büro auf einem Stockwerk zusammen mit der Fakultät "Soziale Arbeit Gesundheit und Pflege" also den Sozialwissenschaftlern und bekomme da einiges mit, auch durch Mithören der Unterhaltungen der Studenten im Bus. Mein Eindruck ist dass dies ein Laberfach ist, bei dem der Großteil der Erkenntnisse auf empirischen Wissen, also Erfahrung beruhen. Ich mag solche Fächer nicht, eigentlich haben diese viel mehr mit Handwerk zu tun als mit Wissenschaft. Beim Handwerk werden auch Erfahrungen vermittelt. Eine Wissenschaft besteht bei mir aus Fakten, Theorien und Modellen. Aussagen sind nachprüfbar, Klausurergebnisse nicht von den persönlichen Vorstellungen des Dozenten abhängig. Das schützt einen nicht vor Willkür: Ich erinnere mich noch mit Grauen an meine Vordiplomprüfung in organischer Chemie, als der Professor mich Dinge fragte, die dann erst im Hauptstudium dran kamen und die ich nicht wusste.
Nun ja ich lese mal das Buch durch und sehe ob ich mit meinem Urteil über Psychologie recht behalte. Woran mich das aber erinnerte war die Antipathie die es im Studium zwischen den Physikern und Chemikern. Wir mussten als Chemiker in die Experimentalphysikvorlesung gehen und Übungen besuchen. Diese Vorlesung war für die Physiker gedacht, voller Mathematik, während wir Chemiker kaum Mathematik im Studium hatten. Die Physiker bekamen bei uns zusammen mit Biologen und Geologen eine Extravorlesung: stark abgeschwächt im Anspruchsniveau. Das galt auch für das anorganische Praktikum. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen einige Wochen zusammen mit Physikern dieses zu abzuservieren. Da erkannte man den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Fächern und die daraus entstehende Antipathie.
Physik ist eine sehr logische Wissenschaft. Es ist im Prinzip alles berechenbar. Alle physikalischen Theorien führen letztendlich zur Mathematik. Zwar sind physikalische Experimente dafür bekannt, dass sie chronisch schiefgehen, aber das beruht im wesentlichen nur auf den nicht idealen Versuchsbedingungen. Zumindest im Computer ist alles logisch und vollständig berechenbar.
Chemie ist anders. Natürlich gibt es auch hier Gesetze, Theorien, grundsätzliche Reaktionsmechanismen. Doch Chemie hat auch viel mit Gespür zu tun. Chemie ist komplex. Außer im Schulunterricht reagieren nicht A+B zu C+D. Es gibt Nebenreaktionen. Die Produktausbeute liegt bei weit unter 100 %. Auch das Verhalten von Molekülen ist abhängig von ihrer Konfiguration also anderen Gruppen im Molekül. Bis heute kann man einen Wirkstoff nicht berechnen, sondern simuliert im Computer viele Wirkstoffe mit leicht unterschiedlicher Konfiguration, bis man einen ideal gefunden hat.
Die Physiker haben den Analysengang nach einer Kurzvorschrift, bei uns "Kochzettel" durchgeführt, aber ohne jedes Gespür. So wie es eben in der Physik ist: Mach dieses und jenes und du bekommst dieses Ergebnis. Ohne jedes Eingehen auf den Einzelfall. Dazu ein Beispiel: Ein Physiker bekam ein Mineraliengemisch, das Hellblau war. Hellblau, das war eigentlich nur eine Substanz bei den Mineralien: Cobalt(II)chlorid in trockener Form. Die Substanz muss enorme Mengen davon gehabt haben. Ein Chemiker hätte die Probe wohl nie bekommen, weil er sofort ohne jede Analyse schon mal Cobalt als bestimmt angekreuzt hätte.
Also sag ich zu dem Kommilitonen "Du kannst Cobalt schon mal angeben". Doch der glaubt mir nicht (Physiker wissen ja alles besser) und macht eine Vorprobe, die Boraxprobe: Die Substanz wird mit Borax geschmolzen, es entsteht ein Glas und bestimmte Substanzen färben es. Das ist der gleiche Prozess wie bei farbigem Glas oder Glasuren. Kobalt färbt die Perle blau. Bei dem Student war sie schwarz. Also sagt er "Ha von wegen! Kein Kobalt!". Was war geschehen: Die Probe enthielt so viel Kobalt, dass kein Blau mehr resultierte sondern schwarz. Also nehme ich einen kleinen Krümel, mische es mit viel Borax und erhalte eine wunderschöne, königsblaue Perle.
Das verdeutlicht den Unterschied. Bei Chemie reicht das sklavische Verfolgen von Vorschriften nicht aus. Es gehört Erfahrung, Gespür mit dazu. Oder wie ein Professor sagte: "Ein Chemiker kann ein guter Physiker werden, doch ein Physiker wird nie die Fähigkeiten erwerben, die man als Chemiker braucht". Trotzdem unterscheidet sich Chemie sehr stark von Sozial- oder Geisteswissenschaften. Es ist eine Naturwissenschaft. Ihre Theorien sind verifizierbar. Es sind nicht Vorstellungen wie der Mensch wohl innerlich Dinge verarbeitet oder sein verhalten geprägt wird und die sich von Gelehrten zu Gelehrten unterscheidet. Das unterscheidet Chemie von einer Laberwissenschaft wie Soziologie.
Ich habe nun nach einiger Zeit der Abstinenz wieder Gefallen an Chemie gefunden und scheibe derzeit an meinem dritten Buch, diesmal über Lebensmittelkennzeichnung. 20 Seiten sind schon zu Papier gebracht. Meine Nichte, die Editologie studiert würde das Manuskript durchsehen, weil sie das auch interessiert. Ich hoffe, das sie nicht die einzige ist. Das einzige, womit ich mich schwer tue, ist nach 10 Jahren mich mit den inzwischen einige Male geänderten Gesetzen zu beschäftigen. Das Lebensmittelrecht war schon immer der Teil vom Studium, den ich am unangenehmsten fand. Mal abgesehen davon, dass Juristendeutsch schwer zu lesen ist, gibt es nur einen Rahmen vor. Was wirklich erlaubt und verboten ist, das muss man Kommentaren oder Gerichtsurteilen entnehmen und so sind Unternehmen auch meister an der Grenze des Erlaubten Werbung zu machen, wie z.B. dem verbot der gesundheitsbezogenen Werbung bei vielen Produkten z.B. "aktiven Jogurtkulturen".
Hallo Bernd,
ich hätte bei einer hellblauen Probe auch Kupfer(II)sulfat in Betracht gezogen, warum schließt du das aus? So rein interessehalber gefragt. (Ich bin Datenbankentwickler, mein Vater ist aber Mineraloge, daher entsprechend genetisch vorbelastet :).
Lg
Sorcuring
Das ist das was ich mit Gespür bezeichne. Die Mineralien unterscheiden sich in feinen Abstufungen, die man wohl genau mit einem Spektrometer bestimmen kann, die man aber auch mit dem blosen Auge sieht.
kobaltblau hat einen mehr hellen, pastellfarbenen Ton
http://www.seilnacht.com/Lexikon/CoPigm.JPG
Kupfersulfat ist sehr intensiv, mit einem reineren Blauton
http://www.felke.de/pics/gewerbe/Kupfersulfat.jpg
Selbst wenn man es mit weissen Mineralien mischt, wird es immer kräftiger und blauer sein als Cobaltchlorid.