Bernd Leitenbergers Blog

Physik und Chemie

Beim Ansehen einer Alpha Centauri Folge und beim lesen der beharrlichen Kommentare von Max mich zu sich wandelnden Naturgesetzen zu äußern kam ich auf das heutigen Thema. Bei Alpha Centauri ging es um die Frage „kann die Physik die Welt erklären?“ Harald Lesch hat gut herausgearbeitet dass dies nicht geht, weil die Physik die Naturgesetze zwar bestimmt, aber dies eben immer in einer idealisierten Welt geschieht. Heute sind die meisten Naturgesetze mit denen wir im täglichen Leben konfrontiert sind recht gut bekannt und die Physik macht sich auf zu erklären wie man damit Dinge erklären kann, die von uns weit entfernt sind – räumlich im Universum, zeitlich nahe des Urknalls oder sensorisch wahrnehmbar wie im Inneren von Atomen.

Eine Menge Leute haben damit Probleme, dass die Physik alles erklären will und wie uns ja Reportagen vom CERN weismachen wollen geht es jetzt noch um die letzten ungeklärten Phänomene. Das klingt nach einer tollen Wissenschaft. Leider ist das Gegenteil der Fall. Aus einem Büchlein habe ich folgenden kleinen Merkspruch für die Naturwissenschaften:

Ich will mich mal auf den Spruch über die Physik konzentrieren. Vielleicht hat der eine oder andere noch misslungen Experimente aus dem Physikunterricht in Erinnerung, bestimmt aber wenn er das mal hatte, aus dem Physikpraktikum im Studium. Da war es normal und ein elementarer Bestandteil des Praktikums war auch die Fehlerrechnung: Zu deutsch man musste Abschätzen, warum nicht das erwartete rauskam, indem man Schätzungen für Fehler durch Störeinflüsse machte und die Auswirkungen anhand der Gleichungen berechnete.

Das für einen Chemiker so paradoxe an der Physik ist, dass sie zum einen so mathematisch ist – sie ist im Prinzip angewandte Mathematik. Es werden Kräfte, Wirkungen und Vorhersagen berechnet. Leider haben diese mit der wirklichen Welt oft nicht so viel zu tun. Es gibt eben Reibung, Materialeigenschaften und die reale Welt ist nicht idealisiert. Nach den optischen Gesetzen sollte es keine Farbfehler bei einem Objektiv geben. Leider brechen aber alle Gläser die es gibt, Licht unterschiedlicher Wellenlänge unterschiedlich und so entstehen Farbfehler. Mehr noch, sie lassen bestimmte Wellenlängen nicht passieren. Für Infrarot und UV sind die meisten Gläser blind. Das ist die reale Welt und das ist der Gegensatz zur idealen Welt der Physik.

Chemie ist da anders. Es fängt schon damit an, dass die Mathematik weniger wichtig ist. Man kann Reaktionsgeschwindigkeiten berechnen, Konzentrationen oder p.H. Werte. Das alles hat aber Grenzen. Sehr viel in der Chemie ist empirisch, weil hier die reale Welt schon im Labor anfängt. Die meisten Reaktionen verlaufen schon nicht wie man denkt nach dem Muster A+B ? C +D. Das klappt noch ganz gut bei anorganischen Reaktionen da die Ionenbindungen sehr stark sind und es kaum Nebenreaktionen gibt. Wenn man Natronlauge und Salzsäure zusammenleert, dann kann man sicher sein es gibt Speisesalz und Wasser, weil Natrium und Chlor(I) kaum andere Möglichkeiten haben zu reagieren. Bei organischen Substanzen sieht das komplett anders aus. Es entstehen immer Nebenprodukte die weiter reagieren können. Es kann sein, dass das Zielprodukt selbst bei einer industriellen Synthese nicht das Produkt ist, das vornehmlich entsteht. Geschweige denn das jemand daher gehen könnte mit einer Menge von Zahlen über das Periodensystem jede Reaktion genau berechnen zu können. Bei vielen Reaktionen wird noch daran gearbeitet den genauen Reaktionsmechanismus überhaupt experimentell zu bestimmen.

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Der Reaktion von Toluol (Methylbenzol). Es ist möglich über die elektrophile Substitution eine weitere Methylgruppe einzufügen. Wie man sich leicht vorstellen kann gibt es dazu drei Positionen: In der Nummerierung sitzt die erste Methylgruppe an der Position 1. Die zweite kann nun in Position 2,3,4 angefügt werden. Da das Molekül rotationssymmetrisch ist sind Positionen 5+6 identisch zur 3+2. Eine Methylgruppe erleichtert (das ist seit 100 Jahren bekannt) nun eine Reaktion an der Position 2 (ortho) und 4 (Para) und erschwert die Reaktion an der Position 3 (meta).

Das heißt: Man bekommt nun nicht ein Produkt sondern ein Gemisch von 1,2 und 1,4 Dimethylbenzol. Noch schlimmer: Zwei Methylgruppen im Molekül erleichtern die Reaktion noch mehr, sodass diese Produkte weiter reagieren. Nun wird es aber schwierig. Sowohl beim 1,2 wie auch beim 1,4 Dimethylbenzol würde eine neu eingefügte Methylgruppe für jeweils eine Methylgruppe in der Metaposition und für die andere in der Ortho- oder Paraposition liegen. Dazu kommen dann noch räumliche Effekte die eine Reaktion direkt neben einer schon existierenden Methylgruppe leicht benachteiligen.

In der Summe wird man eine Gemisch von verschiedenen Di- und Trimethylbenzolen erhalten. Mehr noch: Die Radikale die benötigt werden, um die Reaktion durchzuführen können auch andere Reaktionen induzieren, wobei bei entsprechender Hitze dann auch noch die kinetisch instabilen, aber thermodynamisch stabilen Metaprodukte (1,3 Dimethyl.- und 1,3,5 Trimethylbenzol entstehen).

Das alles ist Erfahrungswissen, nicht berechenbar. Es gibt kein Naturgesetz für die Friedel-Crafts Alkylierung wie der Reaktionstyp im Fachjargon heißt. Chemie ist in einem großen Maße Empirik, also Erfahrungswissen. Regeln. Mit genügend viel Energie ist alles möglich. Ich möchte hier mal an das Experiment von Urey und Miller erinnern, bei dem in einem Glaskolben Ammoniak, Wasser und Methan (Die Uratmosphäre) gekocht wurde und nach einigen Tagen waren in dem braunen Brei der dabei entstand Alkohole, organische Säuren, Aminosäure und niedere Zucker. Andere Experimente mit leicht anderer Zusammensetzung, Lavagestein als Katalysator und Blitzen als Energiequelle ergaben dann auch noch die niedrigen Fettsäuren und DNA Basen.

Natürlich basiert auch die Chemie in ihrem Kern auf einem Model. Es ist das einer idealisierten Welt. Aber ich denke die Chemiker unterschieden sich von den Physikern darin dass sie diese Tatsache öfters im Kopf haben und es weitaus weniger Modelle, Gesetze, Formeln in ihrer Welt gibt. Sehr viel ist immer noch „Trial und Error“. Das Experiment ist der wichtigste Teil der Chemie. (Symptomatisch ist, das ein kleines Teilgebiet der Chemie die theoretische Chemie ist – also die Beschäftigung mit den Modellen, umgekehrt ist die Experimentalphysik nur ein Teilgebiet der Physik. Das sagt glaube ich viel aus).

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