Aaron Kurz hat ja eine kleine Diskussion entfacht ob man wegen 20% mehr Nutzlast (bei gleicher Startmasse) eine neue Rakete konstruieren soll. Ich bin der Meinung wie die meisten: es lohnt sich nicht und zwar, weil die Entwicklungskosten einer Rakete so hoch sind. Selbst wenn wir SpaceX als Beispiel, das es deutlich billiger geht, nehmen: Die Falcon 9 kostete bis zur ersten Version 600 Millionen Dollar Entwicklungskosten. Seitdem hat man sie noch zweimal gestreckt und die Triebwerke getunt. Das hat sicher auch Geld gekostet. Vier Flüge (die ersten beiden der Falcon 9 und jeweils der erste der v1.1 und 1.2) waren Qualifikationsflüge wo man nur in zwei Fällen Geld bekam und das war nicht viel (Cassiope brachte 10 Millionen Dollar ein, Orbcomm zahlt für zwei Starts 42 Millionen Dollar). So ist es sicher nicht abwegig 1 Milliarde Dollar als Entwicklungskosten bis zur V1.2 anzusetzen. Lockheed Martin hat in den letzten Jahren zwischen 10 und 15% des Umsatzes als Gewinn verbuchen können (von SpaceX gibt, es da nicht börsennotiert ist, keine verpflichtend veröffentlichten Angaben). Übertragen wir das auf SpaceX und nehmen 15% Gewinn am Umsatz als höhere Zahl so macht der Konzern pro Falcon 9 Start (61,2 Millionen Dollar) 9,18 Millionen Dollar Gewinn. Die Firma müsste also 109 Falcon 9 starten (1000 / 9,18 Millionen) bis sie die Entwicklungskosten wieder hereinbekommt – und dies ohne Berücksichtigung von Verzinsung, die ein privates Unternehmen bei einem Kredit bezahlen müsste bzw. die es erhalten würde wenn es das Geld nicht für die Entwicklung ausgibt sondern anlegt. Bei staatlichen Entwicklungen ist das Verhältnis noch viel schlechter. Heute geht der Trend daher nicht dahin die Nutzlast zu steigern, sondern die Startkosten zu senken. Ariane 6 hat ja keine höhere Nutzlast als Ariane 5 aber sie soll eben preiswerter in der Herstellung sein.
So aber nun zum eigentlichen heutigen Thema. Ich lasse mich mal auf die Argumentation ein: „20% mehr Nutzlast sind ein berechtigter Grund eine neue Technologie einzuführen“ und will zeigen, dass dies auch einfacher geht indem ich nur eine einzige Stufe leicht umrüste. Wer es spannend liebt, wartet nun bis er den Artikel ganz aufmacht und überlegt was ich meinen könnte…
Nun es gäbe einiges. Den gleichen Gewinn wie der Übergang von Kerosin auf Methan bringt der Übergang vom Nebenstrom auf Hauptstromverfahren. In beiden Fällen gewinnt man etwa 200 m/s beim spezifischen Impuls. Aber dann müsste man, um die 20% mehr Nutzlast zu bekommen auch bei allen Stufen machen. Mit nur einer Stufe bekommt man es auch hin und zwar wenn man eine LOX/LH2 Stufe auf LF2/LH2 umrüstet. LF2 ist flüssiges Fluor. Fluor ist das chemisch reaktivste Element das es gibt. Fluor reagiert mit Wasserstoff schon in der Kälte und Dunkelheit, mit wasserstoffhaltigen Verbindungen jeder Art (auch Wasser) reagiert es heftig indem es ihnen Wasserstoff entzieht. Mit organischen Stoffen entzündet es sich spontan. Die hohe Reaktivität hat – das mag erstaunen – den Vorteil das es umweltverträglicher als Kerosin ist. Kerosin, in den physikalisch-chemischen Eigenschaften in etwa Diesel oder schwerem Heizöl vergleichbar, entspricht der Freisetzung dieser Substanzen bei einem Unfall z.B. einem Tanklastwagen der umgekippt ist oder einer Ölpest. Fluor reagiert sofort mit allem. Wenn es auf Wasser auftrift, bildet es Flusssäure, eine relativ schwache Säure und Sauerstoff. Die Flusssäure wiederum reagiert mit den Calciumionen im Wasser und bildet rasch schwerlöslichen Flussspat. Trifft es auf Land, so wird zuerst die Vegetation verbrannt, dann reagiert es im Erdboden mit den Tonmineralien und dem Wasser und bildet Flussspat und Fluorosilikate und Fluoraluminate – ungefährliche Mineralien. Es hat keinerlei Langzeitwirkung. Nächstes Jahr ist die Vegetation nachgewachsen und die Sache ist vergessen.. So ist es am ehesten in der Wirkung mit Feststofftriebwerken vergleichbar die auch Salzsäure als Reaktionsprodukt abgeben. Salzsäure ist sogar noch stärker als die aus Fluor entstehende Flusssäure
Die Frage ist natürlich, wie man bei dieser Reaktivität Fluor als Raketentreibstoff nutzen kann. Nun das geht verhältnismäßig gut, denn einige Metalle, Nickel aber auch Edelstahl bilden beim Kontakt mit Fluor eine Schicht aus Fluorid auf dem Metall, was dieses vor weiterer Reaktion schützt. Raketentriebwerke können daher in der Regel problemlos mit Fluor arbeiten. Das RL-10 und die Centaur Oberstufe wurden für den Fluoreinsatz untersucht. Ich habe leider in meinen Chemiebüchern nichts über die Reaktion mit Aluminium gefunden. Doch innendruckstabilisierte Tanks aus Edelstahl sind nicht schwerer als Alutanks, wie man an der Centaur sieht, die immer noch leichter als moderne LH2/LOX Stufen aus Aluminium wie DCSS, KVTK oder ESC-A/B, ist.
Warum sollte man nun Fluor einsetzen? Das erste ist ein leicht höherer spezifischer Impuls. Unter gleichen Bedingungen (Brennkammerdruck/Expansionsverhältnis liefert LF2/LH2 einen um etwa 200 m/s höheren spezifischen Impuls als LOX/LH2. Noch bedeutsamer ist aber eine zweite Tatsache: LOX/LH2 wird heute im Verhältnis 6:1 umgesetzt, den höchsten spezifischen Impuls bei LF2/LH2 bekommt man bei 14-15 zu 1. Das ergibt sich daraus, das Fluor nur einwertig ist, d.h. das stöchiometrische Verhältnis, bei dem beide Reaktionspartner vollständig umgesetzt werden, liegt bei 19:1, während es bei der Reaktion von Wasserstoff mit dem zweiwertigen Sauerstoff bei 8 ist. Raketentriebwerke arbeiten immer mit Wasserstoffüberschuss so ergibt sich das niedrigere Verhältnis von 14-15 bzw. 6 zu 1.
Die Folge: Der Wasserstoffanteil ist kleiner bei einer gegebenen Treibstoffmenge. Bei 15 zu 1 verglichen mit 6:1 z.B. nur 43,75%. Da Wasserstoff nur eine Dichte von 0,069 hat sind die Wasserstofftanks normalerweise dreimal größer als die Sauerstofftanks und entsprechend schwerer. Zusätzlich hat Fluor eine Dichte von 1,527 g/cm³ vergleichen mit 1,141 bei Sauerstoff, d.h. auch der Fluortank kann kleiner sein. Das spart eine Menge Gewicht ein.
Praktisches Beispiel: Bei der ESC-A wiegt der LH2 Tank 1,980 kg, der LOX-Tank trotz sechsfachem Treibstoffgewicht nur 220 kg. Würde man nun den LH2-Tank behalten, den LOX-Tank vergrößern, sodass er so viel Fluor aufnimmt damit man den Wasserstoff mit 14:1 verbrennt, so kommt man zu folgenden Zahlen:
Parameter | ESC-A | Fluor-ESC A |
---|---|---|
Startmasse nach Zündung: | 18.159 kg | 42.507 kg |
Trockenmasse | 3.300 kg | 3.777 kg |
davon LH2 Tank | 1.980 kg | 1.980 kg |
davon Oxidatortank | 220 kg | 498 kg |
Voll/Leermasseverhältnis: | 5,5 zu 1 | 11,2 zu 1 |
Spezifischer Impuls | 4364 m/s | 4564 m/s (+200 m/s) |
Ich gebe zu, die ESC-A ist wegen der extrem ungünstigen LH2-Tankform ein heißer Kandidat für einen Vergleich, doch auch bei normal geformten Tanks sinkt das Gewicht dieser (und sie machen meist zwei Drittel bis drei Viertel der Stufenmasse aus) um 45% ab. Bei obiger Betrachtung habe ich sogar 200 kg für ein zweites HM-7B und einen verstärkten Schubrahmen hinzuaddiert, damit das Schub/Gewichtsverhältnis erhalten bleibt.
Setzt man diese Stufe als Oberstufe auf eine Ariane 5 und kalkuliert die Nutzlast (bei gleicher Zielgeschwindigkeit), so steigt die GTO Nutzlast von 10.350 auf 15.700 kg, also um 51%. Das ist viel mehr als LOX/Methan erreicht und nur indem ich eine einzige Stufe umgerüstet habe! So lohnt es sich wirklich.