Bernd Leitenbergers Blog

5,3 Millionen und die Sicherheit

So, mein Auftrag ist erledigt und es gibt wieder einen Blog. Zugegeben, viele neue Themen gibt es nicht. Auf das heutige nehme ich diesen SpaceNews Artikel als Aufhänger. In dem geht es darum, dass nach unabhängigen Untersuchungen die Raumschiffe die ab 2018 die ISS anfliegen sollen nicht das anvisierte LOC (Loss of Crew – Tod der Besatzung) von 1:270 erreicht. Ich will die Systematik von LOC nicht diskutieren, auch weil Gerstenmaier, Chef der Abteilung für bemannte Raumfahrt gibt auch zu, das diese Zahl sehr diskussionswürdig ist:

The use of LOC is good when comparing the relative safety of different designs in the same model. “But it’s not a very good tool for determining absolute risk,” Gerstenmaier. “That really misleads, sometimes, our overall design decisions.”

“I really don’t have a better method than to use this as a absolute measure of safety,” he said of LOC. “We just need to be careful when we discuss these numbers.”

Die LOC Zahlen wurden ja schon früher diskutiert, so als die NASA Ares I favorisierte anstatt die damals noch jungen Delta 4 und Atlas V. Damals wurde gesagt dass bis man die Träger für bemannte Missionen brauchte sie viel mehr Flüge absolviert haben, was zum Eliminieren von Fehlerquellen führt und so das Risiko senkt.

Was mich erstaunt ist das eine uralte Debatte wieder aufkam:

“Blindly striving to achieve a statistical loss of crew number may drive you to design a system that is less safe,” he said in a February speech at a Federal Aviation Administration commercial space transportation conference here. That sounded counterintuitive, he acknowledged, but noted measures that can, on paper, reduce the LOC figure, like the addition of redundant systems, can increase a vehicle’s complexity and result in unforeseen failure modes.

Das erinnert mich an die Diskussion bei Mercury. Damals ging es um den Einsatz der Redstone bei den ersten Flügen. Von Braun war dafür die Redstone möglichst unverändert einzusetzen, sie war seit Jahren im Einsatz als Satellitenträger aber auch militärischer Träger. Als Mercury begann waren schon 5 Jahre seit dem ersten Erprobungsflug verstrichen. Das bemannte Raumfahrtprogramm konnte so auf Erfahrungen und die Elimination von Kinderkrankheiten aufbauen. Soweit es geht, wollte man noch Systeme redundant absichern. Das damals frisch gegründete Zentrum für bemannte Raumfahrt hatte einen anderen Ansatz: Alles was man für die Mission nicht brauchte, sollte rausfliegen, nach dem Motto: Was nicht da ist, kann auch nicht ausfallen. Das führte dann bei den ersten Flügen zu neuen Problemen wie dem kürzesten Flug in dem gesamten Weltraumprogramm und einem zu weiten Flug beim nächsten Test.

Das ganze ist also mehr Erfahrungswissen, als eine Wissenschaft obwohl am Schluss ein Zahlenwert rauskommt nämlich eben jener LOC Wert, die Wahrscheinlichkeit die Crew bei der Mission zu verlieren (Loss of Crew). Nicht zu verwechseln mit einer Loss of Mission (LOM). Das ist die Wahrscheinlichkeit das die Mission scheitert, aber die Besatzung sicher zur Erde zurückkehrt. Klassische Beispiele sind Gemini 8 und Apollo 13 wo beide Primärmissionen scheiterten, die Besatzung aber landete. Man könnte sogar soweit gehen den Verlust der Columbia nur als LOC zu zählen, nicht als LOM, denn die Forschungsmission war ja nominell schon abgeschlossen, wenn man als Mission die Forschungstätigkeit zählt – nimmt man die Landung hinzu so wurde natürlich auch die Mission nicht abgeschlossen.

Ich vermute man konzentriert sich bei den Missionen auf das Risiko beim Start, danach das bei der Landung. Bei Trägerraketen mit Satelliten ist ein Fehlstart immer ein Totalverlust, bei einem bemannten Raumfahrzeug könnte sich dieses mit dem Rettungsturm retten oder wenn ein Ausfall später passiert, die Oberstufe abschalten und normal abkoppeln. Der Rettungsturm wird nur benötigt solange die Rakete in der Tropo- und Stratosphäre ist, solange können bei einer Kursabweichung aerodynamische Kräfte die Rakete zerstören und man muss schnell weg. Bei der Landung gibt es bei Kapseln zum einen das Risiko das der Fallschirm sich nicht entfaltet, dann als kleineres Risiko der Hitzeschutzschild. Sofern er nicht beim Start oder später beschädigt wird ein kleines Problem. Navigationsfehler oder falsche Triebwerkszündungen könnten zum Niedergehen über gefährlichen Gebiet führen (Land anstatt Meer, besonders schlimm sind Gebirge und zerklüftete Gebiete). Vom Design her sind Kapseln aber recht zuverlässig, alleine die aerodynamischen Kräfte werden sie z.b. immer so ausrichten, dass der Hitzeschutzschild in Flugrichtung zeigt.

Mich würde schon interessieren ob die Berechnung der Zuverlässigkeit von Raketen genauso erfolgt wie die Berechnung von LOM und LOC und ob die Methoden auch überall gleich sind, denn zu unterschiedlich sind die Zuverlässigkeitsangaben. Für die Atlas III, entsprechendes dürfte für die Atlas V gelten, sind es 0,995. Für Ariane 5 ECB und Vega 0,98. Der Unterschied sieht klein aus, rein rechnerisch bedeutete er aber, das einer von 50 Start von Ariane 5 und Vega fehlschlagen darf, aber nur einer von 200 bei der Atlas. Sie wäre daher schon nahe am LOC-Risiko von 1:270, wobei natürlich es durch das Raumschiff weitere Risiken gibt und die Landung auch riskant ist.

Wie hoch sollte das LOC sein und warum ist die NASA nun mit 1:270 zufrieden, wenn sie vorher bei der Ares/Orion über 1:2000 haben wollte? Nun ich glaube dafür habe ich die Antwort. Man braucht ja einen Vergleich, sonst kann man enorm geringe Risiken wie 1:1 Million, 1:1 Milliarde anstreben. Ich denke der Vergleich ist die Wahrscheinlichkeit im selben Zeitraum wie die Mission dauert auf der Erde zu versterben. Das kann auch passieren durch Unfälle im Verkehr, im Haushalt oder äußerer Ereignisse. Nach einer Grafik beträgt das Todesrisiko für einen 40-Jährigen Mann in Deutschland 1:1000 pro Jahr, im Alter von 50 geht es schon in Richtung 1:300. Nimmt man 40 bis 50 als Durchschnittsalter für die Astronauten an (ganz jung sind sie wegen der Anforderungen nach abgeschlossenem Studium und der Ausbildung/Wartezeit ja nicht und zu alt dürfen sie auch nicht sein) und ein Aufenthalt von 180 Tagen, so ist ein Trip zur ISS etwa 2-6 mal riskanter als das Leben auf der Erde oder so riskant wie das Leben auf der Erde im Alter zwischen 60 und 65.

Die ISS ist dabei das sicherste Element im ganzen. Noch nie ist jemand an Bord der ISS gestorben. Bei 20 Jahren Einsatz und im Durchschnitt 5 Astronauten (anfangs war die Besatzung kleiner als heute) ist also dort das Sterberisiko in einem halben Jahr schon kleiner als 1:200. Viele irdische Risiken wie Straßenverkehr oder häusliche Unfälle aber auch Terrorismus sind dort einfach nicht existent. Würde man die Aufenthaltsdauer an Bord der ISS verlängern, das LOC-Risiko der Vehikel dürfte dann sinken. Die Orion sollte dagegen zum Mond fliegen. Die typische Missionsdauer beträgt dann 14 -20 Tage, also rund zehnmal kürzer als ein ISS-Aufenthalt, also musste die gesamte Architektur auch 10-mal sicherer sein um das dadurch niedrigere LOC-Risiko zu erreichen.

Eine ganz andere Sicht auf diese Zahl bekam ich durch einen Beitrag von Quarks & Co. Da ging es vor einigen Wochen um Feuer. Bei uns sind ja mittlerweile in fast allen Bundesländern Rauchmelder Pflicht. In der Schweiz hat man sich gegen einen gesetzlichen Zwang für die Rauchmelder ausgesprochen. Dort haben die Versicherungen eine einfache Rechnung gemacht – wie viele Tote kann man durch Rauchmelder vermeiden und was kostet das? Sie rechnen nach Statistiken mit 25% weniger Toten, was erst mal toll klingt – nur in der BRD starben im letzten Jahr gerade mal 280 Personen durch Feuer, das Risiko ist also absolut gesehen recht klein, 10-mal kleiner als im Verkehr zu sterben und 20-mal kleiner als im Krankenhaus an MRSA zu sterben. Die Kosten sind aber enorm, weil in jeder Wohnung mehrere Rauchmelder installiert werden müssen. Die Schweiz kam zu einem klaren Nein. Die Kosten würden die Ersparnis bei weitem übertreffen. Die „Ersparnis“? Ja Versicherungen berechnen für alles einen Wert, so auch für ein Menschenleben das liegt in der Schweiz bei 5,3 Millionen Euro. Das wäre der volkswirtschaftliche Verlust, wenn jemand stirbt. Wenn man schon so eine Zahl hat, dann hinterfragt man sie. Ich fand sie recht hoch. Immerhin mit „volkswirtschaftlichem Verlust“, gibt es eine Größe die man verifizieren kann. Wenn ich davon ausgehe das jemand im Durchschnitt 45 Jahre arbeitet (eher hoch gegriffen, mit Studium wird man kaum über 40 Jahre hinauskommen) so müsste er 118.000 Euro jedes Jahr verdienen um auf diese Summe zu kommen. Die Jahre davor und danach kann man nicht zählen, denn dann kostet die Person nur. Zuerst für die Versorgung bis man Jugendlicher ist, Schule, Ausbildung dann als Rentner wenn sich Krankheiten häufen. Das wären fast 10.000 Euro Verdienst pro Monat – selbst für die Schweiz hoch gegriffen. Klar, der Wert beinhaltet natürlich auch den Gesamtnutzen. So bezahlt der Arbeitgeber für die Arbeitskraft, aber er selber will ja auch Gewinn machen, muss zu dem Gehalt noch Sozialabgaben abführen und in der Freizeit generiert jemand auch noch Umsätze, indem er die Kinder erzieht und so einen Babysitter einspart oder ehrenamtlich arbeitet und so fest Angestellte einspart. Bei 5,3 Millionen Wert eines Lebens stellt sich mir allerdings die Frage wie Manager oder Fußballspieler in einem Jahr mehr verdienen können als andere in ihrem ganzen Leben „wert“ sind. Gerade bei Ablösesummen für einen Vertrag, der nur wenige Jahre läuft, sieht man wie schlimm das inzwischen geworden ist.

Mein Vorschlag für die NASA – übernehmt doch einfach das Schweizer System. Anstatt mit hohen Kosten Vehikel zu bauen die theoretische LOC-Zahlen erfüllen, verlangt einfach pro totem Astronaut 5,3 Millionen Euro, oder wenn ihr meint das die so wertvoll wie Fußballspieler sind vielleicht auch 20 Millionen. SpaceX und Boeing wirds freuen, denn ein normaler Satellit ist heute schon teurer als die 4 x 20 Millionen die dann bei einem Fehlstart eines ihrer Raumschiffe fällig werden würden. Ja heute ist schon der Trip ins All teurer als ein Menschenleben – wenn man diese 5,3 Millionen als Basis nimmt. Immerhin – bei Astronauten gäbe es auch gute Gründe die Zahl höher zu setzen. Man muss nur mal berechnen was die Ausbildung eines Astronauten kostet. Jeder bindet ja etliche Arbeitskräfte die ihn schulen, bei Übungen über seine Sicherheit achten etc. Man müsste wirklich mal die Zahl einer Raumfahrtagentur bekommen, was die Kosten nur für ihr Astronautencorps sind und das dann durch die Zahl der Astronauten pro Jahr teilen und man hätte einen Wert für das Astronautenleben. Blamabel wäre nur wenn das weniger wert ist als das eines Fußballspielers der nach einem Match nicht mal einen Satz in fehlerfreiem Deutsch hinbekommt…

Man kann, wenn man eine Zahl für den Wert eines Menschen hat, wirklich ins Grübeln kommen. Im Prinzip kann man alle Zahlen, die mit Geld zu tun haben nun in Menschenleben umrechnen. Der Bundeshaushalt – rund 60.000 Menschenleben. Das Vermögen von Bill Gates, rund 15.000 Menschenleben wert.

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