Der hyperbolischer Exzess, Teil 2: praktische Berechnungen
Da ich das Phänomen des Hyperbolischen Exzesses ausgiebig in meinem Blog über die Heliosphärensonde genutzt habe, hier eine Fortsetzung eines schon sieben Jahre alten Blogs. Es geht um den hyperbolischen Exzess. Auf die mathematische Behandlung der Grundlagen verweise ich auf diesen alten Blogeintrag. Dieser Blog geht auf einige praktische Anwendungen des Phänomens ein.
Die Formel, die ich verwende, ist diese:
V = √ (Vflucht² + Vunendlich²)
Vflucht ist lokale Fluchtgeschwindigkeit bei einem Planeten bei einem bestimmten Abstand x, berechenbar nach
Vflucht =√ 2*γ*M/x (γ: Allgemeine Gravitationskonstante (6,67…x 10-11) und M Masse des Planeten.
Vunendlich ist die Geschwindigkeit, die der Körper im „Unendlichen“ also nach Verlassen der Gravitationsphäre hat oder haben soll.
V ist die zu erreichende Geschwindigkeit. Der Term Vx² ist eine Energie. Wo ich ihn benutze, habe ich den Faktor 2 und die Masse, die man in der Formel eigentlich findet, (E=½ mv²) weggelassen, weil beides Konstanten sind, kürzt es sich so in allen Berechnungen heraus. Man könnte also auch es als die spezifische Energie pro Kilogramm ansehen.
Anwendung 1: Flüge von einem Planeten zu einem anderen.
Nehmen wir mal einen Flug zum Mars bzw. zur Venus. Die Venus ist im Mittel 108,4 Millionen km von der Sonne entfernt. Beim Mars schwankt der Abstand stark, für das Rechenbeispiel habe ich die maximale Entfernung, 249 Millionen km angenommen. Mittels der Vis-Viva Gleichung kann man in einer Hohmannbahn bei gegebener Halbachse die Geschwindigkeit bei einem bestimmten Punkt errechnen. Die Halbachse wäre in diesem Falle der Mittelwert aus Erdentfernung und Zielentfernung, bei einer Erdentfernung von 150 Mill. Km bei einer Bahn zur Venus also (108.4+150)/2 = 129,2 Mill. km. und beim Flug zum Mars (249+150)/2 = 199,5. In Erdentfernung (Startpunkt) errechnet man eine Geschwindigkeit bei der Transferbahn zur Venus von 27.250 m/s und zum Mars 33.236 m/s. Die Kreisbahngeschwindigkeit der Erde beträgt in beiden Fällen 29.750 m/s (eine kreisförmige Bahn angenommen, in der Realität ist sie natürlich nicht kreisförmig).
Zur Venus muss man also 2500 m/s abbauen und zum Mars 3486 m/s gewinnen.
Eine Möglichkeit wäre nun zuerst auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigen, um die Erde zu verlassen. Dann, wenn man in sicherer Entfernung auf einer Umlaufbahn um die Sonne ist, um weitere 3,5 km/s beschleunigen oder, wenn man zur Venus will, um 2,5 km/s abbremsen. Ich kann aber auch gleich den Vektor so legen das ich die richtige Richtung habe und nach obiger Gleichung (Fluchtgeschwindigkeit zu 11 km/s) angenommen) berechnen:
V = √(11²+3,486²) = 11,539 km/s
V = √(11²+2,5²) = 11,280 m/s
Das heißt weniger als 300 m/s reichen aus um 2,5 km/s „einzusparen“ und weniger als 600 m/s „sparen“ rund 3,5 km/s ein. Der Gewinn wird immer kleiner je höher die Geschwindigkeitsdifferenz ist. Bei Jupiter sind es noch 3,2 km/s anstatt >8 km/s und bei der Flucht aus dem Sonnensystem 5,7 anstatt 12,3 km/s. Ohne diesen netten Tatbestand wären Flüge zu den Planeten praktisch unmöglich. Ein Flug zum Mars hätte dann den gleichen Geschwindigkeitsbedarf wie einer zum Jupiter ohne hyperbolischem Exzess. Daher nutzt man dies selbst bei Ionenantrieben aus – warum soll man mit einem Ionenantrieb über 3 km/s aufbauen wenn man mit 0,3 km/s mehr chemischer Energie das Gleiche erreicht?
Das gilt natürlich auch in der Gegenrichtung. Nehmen wir an, wir sind in einer 24-Stunden-Umlaufbahn um den Mars (200 x 33.173 km) und wollen zurück zur Erde. Die Fluchtgeschwindigkeit beim Mars beträgt in 200 km Entfernung 4881 m/s, in 33.173 km Entfernung noch 1531 m/s. Es gibt nun die Möglichkeit das Manöver am marsnächsten oder marsfenrsten Punkt durchzuführen. Die reale Geschwindigkeit beträgt 4.657 m/s in 200 km Entfernung und 458 m/s in 33.173 km. Die Differenzgeschwindigkeit zur Transferbahn zur Erde beträgt bei derselben Umlaufbahn wie beim Start (150 x 249 Mill. km) 1911 m/s.
So kann man die aufzubringende Geschwindigkeit berechnen. Man erhält für 200 km Entfernung 5241 m/s und in 33.173 km Abstand sind es 2448 m/s. Zu berücksichtigen ist aber die Ausgangsgeschwindigkeit, die man von der Zielgeschwindigkeit abziehen muss, um die Differenz zu berechnen. Das sind 4657 m/s in 200 km Entfernung, also nur 584 m/s weniger. Dagegen sind es in 33.173 km Entfernung 2448 m/s die man ausgehend von einer aktuellen Geschwindigkeit von 458 m/s erreichen muss also 1990 m/s mehr.
Das ist eine allgemeine Regel. Will man den hyperbolischen Exzess nutzen, so macht man Bahnmanöver (Abbremsungen oder Geschwindigkeitssteigerungen) möglichst nahe an dem Planeten. Das ist so bedeutend, das es beim Mars z.B. energetisch günstiger ist, wenn man in eine Umlaufbahn um Phobos (rund 6600 km über der Oberfläche) gelangen will, nicht dort die Geschwindigkeit abbaut, sondern in 150-200 km Entfernung (tiefer kann man wegen der Atmosphäre) nicht gehen. Diese 200 x 6600 km Bahn zirkularisiert man dann in einem zweiten Schritt in 6600 km Entfernung. Das kostet zwar weitere Energie, in der Summe ist es aber energiesparender als der „direkte“ Weg.
Anwendung 2: Einschwenken in eine Umlaufbahn in einen Planeten.
Das Einschwenken in eine Umlaufbahn ist relativ einfach: Es ist nur die zeitliche Umkehrung des Verlassens eines Planeten. Üblicherweise ist eine Zielbahn vorgegeben. Dann berechnet man nach der Vis-Viva Gleichung zuerst einmal die Geschwindigkeit in dieser Bahn, an dem Punkt, wo man die Abbremsung durchführen will. Weiterhin braucht man die Fluchtgeschwindigkeit an diesem Punkt. Als Vunendlich nimmt man die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen der Erde in ihrer Umlaufbahn und der Bahn der Sonde an dem Punkt, wo sie die Erdbahn berührt. (Das gilt leider nur für Hohmannbahnen, bei kreuzenden Bahnen muss man den Absolutwert der Differenz der Geschwindigkeitsvektoren bestimmen, was den Umfang dieses Blogs eindeutig sprengt)
Dies wurde schon. oben für zwei Bahnen berechnet. Man kann dann zuerst V errechnen, welche die maximale Geschwindigkeit an dem Punkt x ist. Zieht man nun die momentane Geschwindigkeit der Zielbahn am Punkt x ab, so herhält man die Differenz, die aufzubringen ist. Eine Berechnung erspare ich mir, denn wir haben das schon berechnet: oben beim Mars. Um aus einer 150 x 249 Mill. km Sonnenumlaufbahn in eine 200 x 33173 km Marsbahn abzubremsen, brauche ich 584 m/s, wenn ich dies in 200 km Entfernung tue. Das Einbremsen in den Orbit ist das gleiche wie das Verlassen, nur der zeitliche Ablauf ist ein anderer – man kann es sich verdeutlichen, wenn man einfach das Verlassen eines Orbits rückwärts anschaut – dann ist es das Einbremsen in den Orbit aus dem unendlichen kommend.
In der Realität wird der Mars sich bei Ankunft und Rückkehr in unterschiedlichen Entfernungen befinden, wenn der Rückstart erfolgt, trotzdem liegt der Geschwindigkeitsbedarf auf diesen Bahnen meist unter 1 km/s. Es zeigt übrigens auch, dass es sinnvoll ist, in einer elliptischen Bahn zu bleiben, denn will ich in eine 200 km Kreisbahn einschwenken, so beträgt die Zielgschwindigkeit schon 3451 m/s anstatt 4657 m/s, kurzum man braucht dann nicht 584 m/s, sondern 1790 m/s. Bei der Rückkehr hat man genau die gleiche Problematik. Während so rund 1200 m/s reichen könnten, um in eine stark elliptische Marsumlaufbahn einzuschwenken und diese zu verlassen, können es bei einer 200-km-Kreisbahn 3600 m/s sein.
Anwendung 3: Das ominöse C3
Besucht man Webseiten wie den Trajectory Browser der NASA oder liest Presskits zum Start von Planetensonden so stößt man oft auf den Begriff C3 mit der komischen Dimension km²/s². Dabei handelt es sich um die Geschwindigkeit im Unendlichen (hier: Vunendlich) und zwar damit man es leichter zum Rechnen hat als das Quadrat, hier also der Term Vunendlich ². Es ist von der Dimension her eine Energie. Warum dies? Nun die Fluchtgeschwindigkeit ist abhängig von der Höhe. Zwar hat eine Sonde nach dem Start zuerst auch eine erdnahe Umlaufbahn, aber die Fluchtgeschwindigkeit ist in jeder Höhe eine andere. In 170 km Höhe beträgt sie 11036 m/s, in 300 km Höhe nur noch 10928 m/s. Daher ist es schlau, die Energie im Unendlichen als Kriterium zu nehmen. Diese Energie benötigt man, auch wenn man in eine Zielbahn abbremsen will, während die Parameter der Zielbahn je nach Anwendungsfall vielleicht unterschiedlich sind. C3 zu Venus und Mars liegen bei 7-10 km²/s², zu Jupiter bei rund 80 km²/s². Von C3 auf die benötigte Geschwindigkeit kommt man einfach nach:
V = √ (Vflucht² + C3)
Anwendung 4: Der Raketenantrieb, der beim Vorbeiflug gezündet wird.
Im Normalfall wird man meist den hyperbolischen Exzess nutzen, um in eine Bahn abzubremsen. Es ist aber auch das genaue Gegenteil möglich. Man kann, wenn man am planetennächsten Punkt angekommen ist, beschleunigen. Ich möchte drei Anwendungen beleuchten:
Galileo hätte, wenn der Start 1982 erfolgt wäre, den Mars nahe passiert. Der Mars dient primär als Swing-By Ziel, um Geschwindigkeit aufzunehmen. Man könnte aber auch ein Triebwerk beim Vorbeiflug zünden. Ich habe es mal simuliert. Startet man von der Erde aus mit 36 km/s relativ zur Sonne, so hat man eine 150 x 410 Mill. Km Bahn. Ein naher Marsvorbeiflug in 394 km Entfernung (Mars in 225 Millionen km Entfernung) hebt diese schon auf 168 x 520 Mill km an. Zündet man nun ein Raketentriebwerk in 400 km Entfernung und beschleunigt um 1900 m/s so resultiert eine 176 x 772 Mill. km Bahn – man erreicht Jupiter. Das Beispiel ist jetzt nicht so sinnvoll, weil der Mars ein kleineres Gravitationspotenzial hat als die Erde und weiter von der Sonne entfernt ist – auch bei der Sonne gilt, je näher man eine Geschwindigkeitsänderung durchführt, desto besser. Hier kommt man auf ein Gesamt dV für die Sonde von 14,55 km/s, damit hätte man auch direkt zum Jupiter fliegen können. Für eine Low-Energiebahn zu Jupiter beträgt das dV üblicherweise etwa 14.150 m/s.
Den Effekt könnte man aber bei mehrfachen Swing-Bys nutzen, wenn es mindestens zwei gibt. Das erste könnte z.B. an der Venus erfolgen, welche die Sonde schon um etwa 3 km/s beschleunigt, das ist bei einer Venuspassage drin. Passiert nun die Sonde die Erde, so hat sie im Unendlichen keine Geschwindigkeitsdifferenz von 3 km/s wie beim Start sondern 6 km/s, und erreicht bei einer Passage in 200 km Entfernung eine Spitzengeschwindigkeit von 12,53 km/s. Addiert man nun 1,6 km/s, so kommt man auf 14,15 km/s – ausreichend für eine Jupiterbahn. Man spart so einen zusätzlichen Vorbeiflug ein und damit Zeit.
Richtig lohnend wird es aber bei einem gravitationsstarken Himmelskörper. Eine 1000 km Kreisbahn um Jupiter hat eine Geschwindigkeit von 41.839 m/s. Die Fluchtgeschwindigkeit in dieser Höhe beträgt dann 59.169 m/s. Bei so hohen Werten ist es nun egal, ob die Sonde im Unendlichen 5 oder 10 km/s schnell ist . Man erreicht eine Maximalgeschwindigkeit beim Passieren des Abstandes von über 60 km/s.
Addiert man nun 1 km/s mehr so ist der Gewinn enorm, denn es gilt:
Zuerst errechnet man die Maximalgeschwindigkeit auf herkömmlichen Wege. Ich gehe von 7 km/s Relativgeschwindigkeit zu Jupiter aus, ein typischer Wert für eine Transferbahn:
V = √((59,169²+7²) = 59.707 m/s
Diese Geschwindigkeit wird nun um 1000 m/s gesteigert:
V = 59,707 + 1000 = 60,707 m/s
Im Unendlichen angekommen beträgt die Energie dann V – die ursprüngliche Geschwindigkeit:
E = 60,707²-59,707²
und die Geschwindigkeit kann man nach V = √(60,707²-59,707²) bestimmen
V = √(60,707²-59,707²) = 10973 m/s
Es wird die Geschwindigkeit also um über 10 km/s gesteigert. Dazu kommt noch der Gewinn durch das Swing-By, der ja auch (bei geeigneter Geometrie) eine Beschleunigung bewirkt. Jupiter kann eine Sonde soweit beschleunigen, dass sie nach Verlassen des Sonnensystems noch mindesten 10 km/s hat. Mit Addierung von 1 km/s bei der Passage in 1000 km Höhe kann man den Weert glatt verdoppeln und dies erreicht man nicht durch weitere Vorbeiflüge, da alle anderen Planeten auf dem Weg nach draußen energiearmer sind.
Anwendung 5: Sun-Gazer
Würde man sich ganz nahe der Sonnenoberfläche nähern können, so wäre sie als „Beschleuniger“ noch reizvoller. Die Sonne können wir nur über Jupiter erreichen, da wir sonst rund 26 km/s abbauen müssen. In 1 Million km Entfernung beträgt die Geschwindigkeit einer Bahn mit dem Aphel in 778 Mill. km Entfernung (Jupiter) 514.944 m/s, die Kreisbahngeschwindigkeit 364.354 m/s und die Fluchtgeschwindigkeit 515.274 m/s. Das heißt der eine Kilometer pro Sekunde mehr hievt das Vehikel auf die Fluchtgeschwindigkeit aus dem Planetensystem. Mehr noch, im Unendlichen bleiben 26.278 m/s übrig – mehr als bei Jupiter. 24 Jahre nach dem Manöver hätte die Sonde Voyager 1 überholt, die für diese Distanz 40 Jahre brauchte. Dabei ist sie immer noch 9 km/s schneller, wird also weiter den Abstand vergrößern.
Leider ist diese Möglichkeit nur theoretisch gut, denn der Hitzeschutzschild macht die Sonde so schwer, das wir genauso gut auch einen leistungsfähigeren Antrieb bei Jupiter zünden können und schon wenige Millionen Kilometer weiter von der Sonne entfernt, sinkt der Gewinn rapide ab. Nähert man sich der Sonne maximal auf 43 Millionen km, das ist die geringste Distanz, die bisher erreicht wurde, (Helios) so muss man schon um 3 km/s beschleunigen um nur eine Hyperbel zu erreichen (die man bei Jupiter „umsonst“ erhält) um mindestens Voyagers Geschwindigkeit zu erreichen, müsste man um 4 km/s beschleunigen.
Was ich für vertretbar halte, wäre ein einfacher Aluminiumschild, der relativ dünn ist und die Sonde abschirmt. Aluminium erreicht, wenn es als Spiegelbeschichtung verwendet wird, einen Reflexionsgrad von 95%. Für einen Abstand von 11 Millionen km von der Sonne ergibt sich bei einem Reflexionsgrad von 95% eine Gleichgewichtstemperatur von 485 K oder 220°C. Näher würde ich ohne weitere Maßnahmen mich nicht der Sonne nähern, weil man zwar Aluminium weiter erhitzen könnte, es schmilzt erst oberhalb 600“C, aber es nun mit 220 Grad Celsius selbst eine Wärmequelle und die Sonde ist ja direkt hinter dem Schild angebracht. Doch auch in dieser Entfernung reichen 1000 m/s nicht aus, um das Sonnensystem zu verlassen. Man erhält eine Ellipse mit einem Aphel etwas über 10 Mrd. Kilometer Entfernung. Um im unendlichen mindestens 17 km/s (Voyager 1) zu haben, müsste man um 2058 m/s beschleunigen.
Wenn man in der Zukunft mal einen geeigneten Hitzeschutzschild hat (die Distanz zwischen 1 und 11 Millionen km, also erträglichen 220 °C und heißen heißen 1337°C wird in 15 Stunden durchlaufen – der Hitzeschutzschild muss also wesentlich länger halten als z.B. bei dem Atmosphäreneintritt bei dem er nur wenige Minuten dem Plasma ausgesetzt ist) dann wäre dies eine Möglichkeit Sonden extrem stark zu beschleunigen. Da dies aber nur für Fluchtsonden aus dem Sonnensystem interessant ist (selbst in den Kuipergürtel kommt man schneller über Jupiter, weil man noch 4 Jahre für den Weg zur Sonne und wieder bis zu Jupiters Entfernung hinzurechnen muss) und solche Projekte nur eine niedrige Priorität im Raumfahrtprogramm haben denke ich werde zumindest ich dies nicht mehr erleben.