Bernd Leitenbergers Blog

Treibstoff weglassen – nützlich oder nicht?

Eine bei Raketen mit flüssigen Treibstoffen eher seltene Praxis ist das Weglassen von Treibstoff. Bei Feststoffantrieben ist es häufiger vorkommend, um sie an die Masse des Satelliten anzupassen, wenn die Ausgangsbahn fest ist, z.B. bei einem Doppelstart oder dem Aussetzen mit dem Space Shuttle.

Das man bei einer Rakete mit flüssigem Treibstoff, weglässt wird, kommt selten vor. Ich kenne nur zwei Beispiele. Das eine ist die Ariane 4. Nachdem man die erste Stufe verlängert hatte, das sie rund 70 t mehr Treibstoff aufnahm konnte sie bei gleichem Schub der Triebwerke voll betankt gar nicht mehr abheben. Bei den Versionen ohne Booster oder mit nur zwei Boostern wurde daher Treibstoff weggelassen. Die zweite Anwendung gibt es bei den ATV Flügen der Ariane 5. Da das ATV über 20 t wiegt, die EPS Stufe aber nur 3 t Schub hat und zudem mittelenergetische Treibstoffe wird sie nur zur Hälfte mit Treibstoff beladen. Die Vulcan könnte, wenn man einer Veröffentlichung für die Startmassen glaubt, auch nur teilbefüllt sein, wenn sie ohne Booster startet.

Normalfall: Booster benötigt

Normal ist bei einer Rakete, die um Booster erweitert wurde, oder schon mit diesen konzipiert wurde, dass sie nicht ohne sie abheben kann. Das ist so bei der H-II, Ariane 5, Delta 2. Bei, der Delta kann man diese Entwicklung sogar an Entwicklungsschritten festmachen. Es begann mit der Thor mit 48 t Startmasse, dann folgte die Long Tank Thor mit 70 t Startmasse, die Extended Long Tank Thor mit 84 t Masse und zuletzt die XLT Thor mit 104 t Startmasse. Die erste Version hatte noch drei Booster mit je 4,4 t Masse und die letzte neun mit je 13 t Masse als Startunterstützung.

Als Extremfall kann man die Ariane 5 ansehen. Eine Ariane 5 ohne Booster würde mit der maximalen Nutzlast und größten Oberstufe (ESC-B) rund 238 t wiegen, das Vulcain 2 hat aber nicht mal 100 t Bodenschub. Man benötigte drei anstatt einem Triebwerk damit sie ohne Booster abheben kann. Während der Brennzeit der Booster verbraucht sie Treibstoff und wird leichter, aber bei Brennschluss der Booster wurde noch nicht so viel Treibstoff verbraucht, dass die Beschleunigung über 1 g liegt. Die Rakete lebt also davon, dass die Booster eine hohe Vertikalbeschleunigung aufbauen. Wegen derselben Konzeption bei der Ariane 6 resultiert bei nur zwei Boostern daher auch ein deutlicher Nutzlastverlust.

Warum Weglassen von Treibstoff doch nützlich sein kann

Der offensichtlichste Vorteil ist, dass man eine Option mehr hat, natürlich sind Feststoffbooster viel preiswerter als die Zentralstufe mit flüssigen Treibstoffen. Aber wenn man deren Nutzlast gar nicht ausnutzt, hat man eine Möglichkeit Kosten zu sparen. Das betrifft vor allem Raketen, die auf GTO-Bahnen ausgelegt sind aber auch LEO- oder SSO-Nutzlasten starten. So entfiel kein einziger Start der kleinsten Ariane 4, Ariane 40 auf GTO-Starts. Alle sieben Starts gingen in den SSO. Ähnliches gilt für die Atlas V. Bisher gab es keinen Start der kleinsten Version, Atlas 401 die auch nur die volle LEO Nutzlast ausnutzte, denn dafür benötigt man die Centaur mit zwei Treibwerken (DEC-Centaur).

Gibt es mehrere Boostervarianten, so kann man die Zentralstufe ao auslegen, dass sie optimal auf die größte Boosterzahl ausgelegt ist und bei weniger Boostern, mithin auch weniger Schub Treibstoff weglassen.

Die Brenndauer verlängert sich natürlich durch die Mehrzuladung an Treibstoff. Ein größerer Teil entfällt auf den Betrieb im Vakuum, was die Nutzlast erhöht, da dort der Schub und spezifischer Impuls höher sind.

Da die Trennung bei einer höheren Geschwindigkeit stattfindet, kann man eine größere Oberstufe mitführen oder bei einer bestehenden Oberstufe mit weniger Schub auskommen, z.B. einem anstatt zwei Triebwerken. Das reduziert die Kosten.

Der offensichtliche Nachteil

… ist, das man einen Tank hat, der viel größer ist, als eigentlich benötigt. Allerdings ist der Nachteil nicht so riesig. Bei großen Raketen (über 100 t Treibstoff) wiegt ein Tank bei einer mittleren Dichte des Treibstoffs von etwa 1 (so gegeben bei LOX/Kerosin, aber auch NTO/Hydrazine) etwa 1/70-stel des Inhalts. Bei einer LOX-Kerosinrakete wiegt der Tank normalerweise weniger als die Hälfte der Stufe.

Bei LOX/LH2 ist das Verhältnis schlechter, denn der Treibstoff hat eine niedrigere Dichte. Trotzdem können sehr große Taks 1/20 bis 1/25 des Inhalts wiegen. Bei einer großen LOX/LH2 Stufe macht der Tank typisch 2/3 bis ¾ des Gewichts aus.

Das bedeutet – selbst wenn der Tank doppelt so schwer ist, steigt das Strukturgewicht der Stufe nur um ein Viertel bis die Hälfte an. Das klingt zuerst dramatisch, aber das Strukturgewicht macht ja nur 1/12 (LOX/Lh2) bis 1/20 (LOX/Kerosin) einer großen Stufe aus und dazu kommt noch das Gewicht der Oberstufe und Nutzlast das ja konstant bleibt.

Nachgerechnet

Ich habe dies einmal mit drei Beispielen nachgerechnet. Ich will sie zuerst vorstellen und erklären:

Als historische Vorlage habe ich die Delta G/L gewählt. Zwischen diesen beiden Versionen wurde die Thor durch die längere Version ersetzt. Das erlaubt es eine hypothetische Version zu untersuchen, welche die LTT Thor einsetzt, aber eben nicht voll gefüllt und diese mit der Delta L zu vergleichen.

Als moderne Beispiele habe ich die Delta 4M und Atlas V 401 gewählt. Anders als bei der historischen Vorlage ist man aber nun frei in der Menge des Treibstoffs, der zugeladen wird. Ich habe drei Fälle untersucht und zwar:

Bei der Delta G → L kostet die kleinere Thor 75 kg GTO Nutzlast – relativ viel bei 300 kg GTO Nutzlast. Bei LEO ist es genauso 1200 zu 750 kg. Das ist eine Ansage. Allerdings ist die Thor auch die leistungsfähigste der Stufen. Sie hat den höchsten spezifischen Impuls, einen hohen Schub und eine geringe Leermasse – 31 t mehr bei Verlängerung der stufe bei nur 700 kg mehr Leermasse. Das muss bei den modernen Stufen nicht so deutlich sein.

Bei den hypothetischen neuen Versionen ist es so, dass prinzipiell die Nutzlast der Versionen ohne Booster sinkt – man kann ja die Stufen bei ihnen nicht voll füllen, hat aber die höhere Leermasse als Nachteil. Bei den Versionen mit vielen Boostern (ich habe jeweils die Maximalzahl also fünf bei der atlas V und vier bei der Delta 4 genommen) ist es dagegen so das sie profitieren sollten.

Bei der Atlas mit ihren 3.152 kN Schub im Vakuum resultieren bei 7, 10 und 13 m/s Beschleunigungen Restmassen von 593, 314 und 320 t. Ich bin im Folgenden von einer konstanten Masse der Restrakete von 38 t ausgegangen. Das entspricht rund 12 t Maximalnutzlast bei der kleinsten Version. So resultieren bei 1/70 Trockenmassenanteil der Zusatzmasse folgende Daten für die Atlas 551:

Rakete Vollmasse CCB Leermasse CCB Nutzlast LEO Nutzlast Fluchtbahn
Atlas 551 305,440 kg 21,351 kg 15.200 6.500 kg
Verlängert, 13 m/s Beschleunigung 320,000 kg 21,559 kg 15.400 kg 6.800 kg
Verlängert, 10 m/s Beschleunigung 414,000 kg 22,901 kg 18.000 kg 8.100 kg
Verlängert, 7 m/s Beschleunigung* 500.000 kg 24.164 kg 17.200 kg 8.500 kg

Der Stern (*) zeigt an, das die angegebenen 500 t nicht der Vorgabe entspricht, das wären 593.000 kg. Allerdings sinkt dann die Startbeschleunigung auch bei fünf Boostern so stark ab, das die Nutzlast wieder abfällt. Ich habe schließlich eine CCB mit 500 t Startmasse modelliert, die mit 1,25 g startet. Die Nutzlast für hohe Geschwindigkeiten steigt erst stark an, dann aber schwächer. Bei der LEO Nutzlast ist es so, das hier die größte Version sogar von Nachteil ist. Die Centaur mit nur einem Triebwerk muss dann 40 t Masse beschleunigen und das ist zu viel für die nur 10 t Schub des einzelnen RL10.

und hier dieselbe Berechnung für die Basisversion, bei der man natürlich nicht mehr Treibstoff zuladen kann, sondern nur die Trockenmasse erhöht ist.

Rakete Vollmasse CCB Leermasse CCB Nutzlast LEO Nutzlast Fluchtbahn
Atlas 401 305,440 kg 21,351 kg 9.252 kg 3.730 kg
Verlängert, 13 m/s Beschleunigung 305.648 kg 21,559 kg 9.140 kg 3.730 kg
Verlängert, 10 m/s Beschleunigung 306.990 kg 22,901 kg 8.786 kg 3.600 kg
Verlängert, 7 m/s Beschleunigung 308.353 kg 24.164 kg 8.507 kg 3.420 kg

Es handelt sich bei den Nutzlasten um die mit meiner Simulation errechneten. Diese sind meist höher als die realen, da ich mit vereinfachten Modellen arbeite, so gibt es keine Steuerungsverluste und die Rakete nimmt die energetisch günstigste Bahn, dies muss nicht gegeben sein, z.B. um die aerodynamische Belastung zu verringern. Man sieht: die Verlängerung kostet bei der Basisversion rund 300 bis 700 kg Nutzlast. Die Differenz wird mit zunehmender Geschwindigkeit kleiner. Bei GTO-Bahnen denke ich sind es um 400 bis 500 kg.

Für die Atlas folgt damit gegenüber einer Teilbefüllung ein kleiner Nutzlastverlust bei der Version ohne Booster in der Größenordnung von unter einer Tonne. Dafür kann man bei der größten Version die Nutzlast für einen LEO um 3 t steigern und für eine Fluchtbahn um 1,6 t. Das halte ich für attraktiv. Als optimalste Version stellt sich eine CCB von etwa 414 t Maximalstartmasse heraus, das müsste man durch weitere Simulationen dann noch genauer bestimmen. Bei weniger Boostern würde man entsprechend die Treibstoffzuladung anpassen.

Dasselbe nun bei der Delta 4M:

Rakete Vollmasse CBC Leermasse CBC Nutzlast LEO Nutzlast Fluchtbahn
Delta 4M 226,400 kg 26,760 kg 9.500 kg 3.250 kg
Verlängert, 13 m/s Beschleunigung 215,560 kg 26,760 kg 8.700 kg 3.000 kg
Verlängert, 10 m/s Beschleunigung 226,400 kg 29,394 kg 8.600 kg 3.000 kg
Verlängert, 7 m/s Beschleunigung 226,400 kg 31.720 kg 7.800 kg 2.000 kg

Und mit vier Boostern:

Rakete Vollmasse CBC Leermasse CBC Nutzlast LEO Nutzlast Fluchtbahn
Delta 4M (5,4) 226,400 kg 26,760 kg 13.600 kg 5.800 kg
Verlängert, 13 m/s Beschleunigung 215,560 kg 26,760 kg 14.500 kg 5.500 kg
Verlängert, 10 m/s Beschleunigung 292.000 kg 29,394 kg 13.800 kg 6.700 kg
Verlängert, 7 m/s Beschleunigung 350.000 kg 31.720 kg 15.500 kg* 6.600 kg

Der Stern (*) zeigt an, dass ich hier auf ein Zweiimpulsmanöver ausgewichen bin. Bei nur einer Brennperiode erreiche ich keinen stabilen Orbit. Allerdings dürfte ein Zweiimpulsmanöver auch bei den anderen Versionen die Nutzlast anheben.

Man sieht: die Delta 4 ist schon relativ gut optimiert. Das zeigt auch das die Version mit 13 m/s Beschleunigung kleiner als die derzeitige CBC ist. Eine teilbefüllte, größere Zentralstufe würde die Nutzlast bei der kleinsten Version ohne Booster leicht bis stark absenken. Bei vier Boostern resultiert ein Gewinn, doch er ist selbst bei Fluchtgeschwindigkeit nur ein Achtel der bisherigen Nutzlast. Eventuell wäre das beim Einsatz von sechs oder acht Boostern anders, solche Versionen hat Boeing evaluiert, sie werden aber nicht nachgefragt.

Bei beiden Trägern weicht bei 13 m/s Startbeschleunigung die Zentralstufe nicht stark von der existierenden ab, bei der Atlas ist sie etwas schwerer, bei der Delta sogar etwas kleiner. Bei beiden war die Beschleunigungsstufe von 7 m/s zu Brennschluss der Booster nicht realisierbar, weil dann die Zentralstufen so schwer waren, dass sie nicht mehr sicher abhoben. Ebenfalls bei beiden Trägern ist das Optimum gegeben, wenn die Zentralstufe bei Brennschluss noch etwa mit 1 g beschleunigt.

Das die Delta nicht so viel besser abschneidet hat einleuchtende Gründe. Bei Wasserstoff/Sauerstoff als Treibstoff verändert sich gegenüber Kerosin/LOX bei den teilbefüllten Stufen Folgendes:

Alle drei Gründe zusammen führen dazu, das das Offloading bei Treibstoffen hoher Dichte und geringem Impuls (man könnte hier auch NTO/Hydrazine als Referenz nehmen) attraktiver ist.

Weiterhin von Vorteil wäre auch eine möglichst lange Brennzeit der Booster. Die Booster von Ariane 5, Space Shuttle und Titan erreichen 130 bis 140 s Brennzeit das sind 40 bis 50 s mehr als bei den Boostern von Delta 4 und Atlas V und damit auch mehr Zeit für den Abbau des Treibstoffs. Entsprechend mehr kann man die Stufe verlängern. Natürlich muss dann auch noch der Startschub ausreichen, doch das geht schon heute relativ gut, indem man ein Segment so auslegt, das es beim Start einen hohen Schub liefert, der dann aber bald abfällt.

Auf der anderen Seite haben wir ein Konzept wie die Ariane 5. Bei ihr verzichtet man auf die Möglichkeit ohne Booster abzuheben. Dafür ist die Zentralstufe so ausgelegt, dass sie gerade mal den nötigen Schub hat, um die Nutzlast im Orbit abzusetzen. Für schwerere Oberstufen braucht man daher das schubstärkere Vulcain 2. Angesichts des Preises eines Vulcain ist die Entscheidung wirtschaftlich sinnvoll. Bei der Ariane 6 mit im Prinzip dem gleichen Konzept reduziert dann aber eine relativ hohe Nutzlastabnahme bei nur zwei Boostern. Warum man hier das Konzept nicht mehr flexibilisiert hat z.B. auch drei und sechs Booster vorsieht, entzieht sich meinem Verständnis.

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