Die Lösung für ein überflüssiges Problem – kann man sich mit in die Luft geschossenen Kugeln verletzen?
Auf den heutigen Blog kam ich als ich meinen letzten Blog für die Münchhausen-Kolumne verfasste. Angesichts des hohen Bildungsniveaus der meisten Blogleser wollte ich sichergehen, dass das was ich schreibe nicht doch prinzipiell möglich ist und habe es simuliert. Ich ging davon aus, das, wenn eine 38-cm-Granate der Bismarck-Klasse 42 km weit fliegt, man bei einer doppelt so hohen Geschwindigkeit – und die erreicht schon ein unterkalibriges Leopard 2 Geschoss, man problemlos auf 170 km Reichweite kommen kann, mit Raketenantrieb dann noch mehr. Dabei entdeckte ich, das eigentlich schwere Granaten kleineren Kalibers deutlich kürzer fliegen.
Das Ganze hängt, wie auch die Fragestellung im Titel natürlich mit dem Luftwiderstand zusammen. Denn Luftwiderstand konnte ich bei der 38-cm-Granate zumindest abschätzen, indem ich einfach die Bewegungsgleichungen der Flugbahn löste. Für diese gelten die Gesetze des schrägen Wurfes:
vh = cos (Winkel) * v0
vv = sin (Winkel) * v0
sh = vh * t
sv = vv * t
mit v0 als Mündungsgeschwindigkeit, und vv und vh als vertikale bzw. horizontale Komponente der Geschwindigkeit. sh bzw. sv sind dann die entsprechenden Strecken. Nun zieht aber die Erdgravitation an der Kugel, sonst würde diese ja dauernd weiter steigen. Für die vertikalen Komponenten muss man daher schreiben:
vv = sin (Winkel) * v0 – g * t
sv = vv * t – ½ g * t²
Vereinfacht gesagt gewinnt die Kugel vv/g Sekunden lang Höhe, wird dabei immer langsamer. Danach überwiegt der Therm g*t und die Geschwindigkeit wird negativ, sie verliert an Höhe, bis sie nach 2 * vv/g Sekunden wieder auf der Ausgangshöhe ist. Währenddessen fliegt sie mit der Geschwindigkeit vh horizontal weiter, woraus als Form dann eine Wurfparabel entsteht. Die optimale Weite erhält man, wenn sin(Winkel) = cos (Winkel) ist, also bei 45 Grad.
Das alles gilt nur im luftleeren Raum, denn in Praxis wird sie durch den Luftwiderstand abgebremst und zwar in beiden Geschwindigkeitskomponenten. Immerhin für eine Granate mit einem v0 von 793 m/s wie die der 38-cm-Geschütze der Bismark errechtet sich im luftleeren Raum eine maximale Weite von 64,1 km. In der Wikipedia stehen als effektive Reichweite 42 km. Das kostet also ein Drittel der Distanz.
Ich hatte nun erwartet, dass dies bei kleinerem Kaliber nicht viel anders sein dürfte. Sicherlich – ganz kleine Kugeln wie von Pistolen und Gewehren werden stark abbremst, aber große Granaten? Eine Granate für die Mittelartillerie eines Schlachtschiffs, gleichzeitig größtes normales Kalber an Land und Normalgeschütze von leichten Kreuzern mit 15 cm Durchmesser wiegt immer 45,5 kg. Dabei hat sie nur eine Spitzenfläche von 0,08 m² und mit 0,25 einen guten Luftwiederstandsbeiwert. Bei den Reichweiten von Landgeschützen dieses Kalibers wusste ich aber, das diese meist unter 20 km lagen. Und so sah ich auch, als ich für den vorletzten Blog die postulierten 155 mm Kanonen durchsimulierte, dass die Granaten nicht so weit flogen wie erwartet. Ich habe jetzt mal eine Tabelle aufgestellt, damit es vergleichbar ist, alle mit derselben v0 von 793 m/s, dem einer 38-cm-Granate und auch die Masse der Granaten wurden von der 820 kg der 38 cm Granate herunterskaliert, entsprechen also nicht genau den verwendeten Granaten:
Parameter |
|||||||
Geschossdurchmesser: |
75,00 mm |
105,00 mm |
127,00 mm |
150,00 mm |
210,00 mm |
280,00 mm |
380,00 mm |
Geschossgewicht: |
6,304 kg |
17,299 kg |
30,610 kg |
50,435 kg |
138,395 kg |
328,047 kg |
820,000 kg |
Geschoss-Cw Wert: |
0,250 |
0,250 |
0,250 |
0,250 |
0,250 |
0,250 |
0,250 |
Starthöhe: |
10 m |
10 m |
10 m |
10 m |
10 m |
10 m |
10 m |
Mündungsgeschwindigkeit: |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
Mündungsenergie: |
1982132,0 J |
5439229,4 J |
9624533,9 J |
15857999,7 J |
43514778,7 J |
103146014,0 J |
257828090,0 J |
Gipfelhöhe: |
5,9 km |
7,1 km |
7,8 km |
8,5 km |
9,8 km |
10,8 km |
11,8 km |
Reichweite: |
18,3 km |
23,2 km |
26,2 km |
29,0 km |
34,7 km |
39,5 km |
44,2 km |
Neigungswinkel: |
45,0 ° |
45,0 ° |
45,0 ° |
45,0 ° |
45,0 ° |
45,0 ° |
45,0 ° |
Auftreffgeschwindigkeit: |
287 m/s |
336 m/s |
366 m/s |
394 m/s |
453 m/s |
504 m/s |
555 m/s |
Geschwindigkeit im Gipfelpunkt: |
270 m/s |
310 m/s |
332 m/s |
352 m/s |
391 m/s |
422 m/s |
450 m/s |
Flugzeit: |
69,2 s |
76,1 s |
80,0 s |
83,2 s |
89,4 s |
94,2 s |
98,5 s |
Auftreffwinkel: |
-64,8 Grad |
-60,5 Grad |
-58,2 Grad |
-56,5 Grad |
-53,4 Grad |
-51,4 Grad |
-49,7 Grad |
Geschwindigkeit horizontal: |
122 m/s |
166 m/s |
193 m/s |
218 m/s |
270 m/s |
315 m/s |
359 m/s |
Geschwindigkeit vertikal; |
-260 m/s |
-292 m/s |
-311 m/s |
-329 m/s |
-364 m/s |
-394 m/s |
-424 m/s |
Energie: |
259714,0 J |
974862,2 J |
2051383,5 J |
3916668,3 J |
14212185,1 J |
41672755,1 J |
126505434,8 J |
Druck: |
5878,7 Pa |
11258,4 Pa |
16193,8 Pa |
22163,8 Pa |
41032,9 Pa |
67677,8 Pa |
111545,5 Pa |
Zur Erklärung: 75, 105 und 150 mm sind Standardkaliber der landgestützten Artillerie, 150 mm auch die der Mittelalterliche von Schlachtschiffen und Standardkaliber bei leichten Kreuzern der Reichsmarine. 127 mm sind das Standardkaliber von Zerstörern, 210 mm das von schweren Kreuzern wie der Prinz Eugen, 280 mm das von kleinen Schlachtschiffen und Panzerkreuzern wie der Scharnhorst.
Man sieht an der Grafik, das die Geschosse sukzessiver weiter fliegen. An der niedrigen Auftreffgeschwindigkeit und den Winkeln sieht man das die kleinen Kaliber stärker abgebremst werden. Es gibt zwei Effekte. Der erste Effekt ist das die Abbremsung durch den Luftwiderstand von dem Verhältnis Fläche zu Masse abhängt. Während die der Luft Widerstand bietende Fläche aber mit steigendem Kaliber im Quadrat ansteigt, nimmt die Masse mit der dritten Potenz zu. Die Abbremsung wird also verhältnismäßig geringer.
Der zweite Effekt ist, dass die Atmosphäre mit zunehmender Höhe immer dünner wird und so auch die Abbremsung. Ich habe für die Berechnung ein einfaches Modell, das der barometrischen Höhenformel folgt, also eine exponentielle Abnahme der Dichte und damit des Widerstands. Es reicht allerdings für meine Raketenberechnungen aus und die hier ermittelte Maximalreichweite von 44,2 km passt auch zu den 42 km die angegeben werden für die 38 cm Kanone. Daher denke ich ist es ausreichend genau.
Was ist wichtiger? Ich habe dazu mal das kleinste und größte Kaliber senkrecht nach oben geschossen, dann ist der Luftwiderstand der Aufstiegskurve minimal:
Parameter |
||
Geschossdurchmesser: |
380,00 mm |
75,00 mm |
Geschossgewicht: |
820,000 kg |
6,304 kg |
Geschoss-Cw Wert: |
0,250 |
0,250 |
Starthöhe: |
10 m |
10 m |
Mündungsgeschwindigkeit: |
793,0 m/s |
793,0 m/s |
Mündungsenergie: |
257828090,0 J |
1982132,0 J |
Gipfelhöhe: |
25,2 km |
12,6 km |
Reichweite: |
1,7 km |
0,8 km |
Neigungswinkel: |
89,0 ° |
89,0 ° |
Auftreffgeschwindigkeit: |
623 m/s |
336 m/s |
Geschwindigkeit im Gipfelpunkt: |
12 m/s |
8 m/s |
Flugzeit: |
144,0 s |
102,2 s |
Auftreffwinkel: |
-89,1 Grad |
-89,3 Grad |
Geschwindigkeit horizontal: |
10 m/s |
4 m/s |
Geschwindigkeit vertikal; |
-623 m/s |
-336 m/s |
Energie: |
159029704,3 J |
355093,6 J |
Druck: |
140223,6 Pa |
8037,7 Pa |
Wie beim schrägen Wurf ist die Gipfelhöhe des kleineren Kalibers halb so hoch und entsprechend auch die Auftreffgeschwindigkeit halb so hoch. Gäbe es keine Atmosphäre, dann müsste die Auftreffgeschwindigkeit genauso hoch wie die Mündungsgeschwindigkeit sein. Um den Einfluss der Geschwindigkeit zu simulieren, habe ich mal die v0 für das kleinste Kaliber diese verdoppelt:
Parameter |
||
Geschossdurchmesser: |
75,00 mm |
75,00 mm |
Geschossgewicht: |
6,304 kg |
6,304 kg |
Geschoss-Cw Wert: |
0,250 |
0,250 |
Starthöhe: |
10 m |
10 m |
Mündungsgeschwindigkeit: |
1586,0 m/s |
793,0 m/s |
Mündungsenergie: |
7928528,2 J |
1982132,0 J |
Gipfelhöhe: |
12,6 km |
5,9 km |
Reichweite: |
37,6 km |
18,3 km |
Neigungswinkel: |
45,0 ° |
45,0 ° |
Auftreffgeschwindigkeit: |
352 m/s |
287 m/s |
Geschwindigkeit im Gipfelpunkt: |
382 m/s |
270 m/s |
Flugzeit: |
101,3 s |
69,2 s |
Auftreffwinkel: |
-72,2 Grad |
-64,8 Grad |
Geschwindigkeit horizontal: |
108 m/s |
122 m/s |
Geschwindigkeit vertikal; |
-335 m/s |
-260 m/s |
Energie: |
391471,9 J |
259714,0 J |
Druck: |
8861,1 Pa |
5878,7 Pa |
Die Reichweite ist doppelt so hoch – klingt gut, wenn man nicht weiß, das im Vakuum wegen des Therms – ½ t g² die Reichweite eigentlich viermal so hoch sein. Und erhöht man die Geschwindigkeit einer 38-cm-Granate auf das Doppelte, fliegt sie auch 158,8 km weit und kommt mit 982 m/s an. Hier wirkt es sich aus, das bei einer Gipfelhöhe bei dieser Geschwindigkeit von 41,2 km ein Großteil der Geschosskurve schon in dünnen Luftschichten verläuft. Zuletzt und nicht ganz unwichtig: Auch der Luftwiderstand steigt mit der Geschwindigkeit quadratisch an. Das bremst aus. Beim 75-mm-Geschoss ist die Auftreffgeschwindigkeit nur wenig höher, obwohl die Mündungsgeschwindigkeit doppelt so hoch ist.
Nach diesen Analysen nun zum eigentlichen Blogthema. Kann man sich mit einem Geschoss verletzen, das senkrecht in die Luft gefeuert wird, und dann beim Herabfallen jemanden trifft? Ich habe da Szenen vor vor Augen, wie es sie vor einigen Jahrzehnten bei Terroranschlägen in arabischen Gebieten gab, wo Menschen jubelnd US-Fahnen verbannten und mit Gewehren in die Luft schossen. Da das meist Kalaschnikows, also AK-47 waren, habe ich mir das zum Vorbild genommen und einen senkrechten Schuss simuliert. Das Gewicht der Gewehrpatrone 7,62 x 39 mm ist in der Wikipedia als Spanne angegeben. Ich habe 10 g genommen, da damit genau die 2510 J Mündungsenergie herauskommen.
Geschossdurchmesser: | 7,62 mm |
---|---|
Geschossgewicht: | 0,010 kg |
Geschoss-Cw Wert: | 0,250 |
Starthöhe: | 10 m |
Mündungsgeschwindigkeit: | 710,0 m/s |
Mündungsenergie: | 2520,5 J |
Gipfelhöhe: | 2,9 km |
Reichweite: | 0,1 km |
Neigungswinkel: | 89,0 ° |
Auftreffgeschwindigkeit: | 122 m/s |
Geschwindigkeit im Gipfelpunkt: | 3 m/s |
Flugzeit: | 49,6 s |
Auftreffwinkel: | -90,0 Grad |
Geschwindigkeit horizontal: | 0 m/s |
Geschwindigkeit vertikal; | -122 m/s |
Energie: | 74,0 J |
Druck: | 162,2 Pa |
Die Höhe von 2,9 km passt gut zu Angaben, die ich mal hörte und die von 2,5 km sprachen. Das nach den Simulationen nun viel der Startenergie verloren geht, ist klar. Das Geschoss trifft noch mit 122 m/s, einem Sechstel der Startgeschwindigkeit auf und einer Energie von 74 J, ein Dreißigstel der Startenergie. Aber der Flächendruck ist durch den kleinen Durchmesser hoch und liegt bei 162 Pa, also etwa 16 Bar. In der Tabelle über Geschossenergien in der Wikipedia liegt die Geschwindigkeit im Bereich von Luftgewehren, die kinetische Energie ist etwas höher, doch die Geschosse für Luftgewehre haben auch nur 4,5 mm Durchmesser und daher viel geringere Masse. Ich denke daher die Verletzungsgefahr dürfte vergleichbar der mit einem Schuss aus einem Luftgewehr sein. Ganz harmlos ist das Herumgeballere also nicht.
Sollten übrigens mal wirklich Granaten mit Raketenantrieb kommen, so müsste man nach den Simulationsergebnissen überlegen, ob man diesen nicht später zündet. Von der Logik der Wurfparabel her wäre es am besten, wenn er gleich nach Verlassen des Rohrs zündet. Doch da der Luftwiderstand dann auch ansteigt, wäre vielleicht ein späteres Zünden, spätestens im Gipfelpunkt der Bahn sinnvoll um die Reichweite zu steigern.
Ebenso folgt daraus, dass wenn jemand mal Satelliten mit einer Kanone starten will – postuliert wurde das ja schon – es wegen der Abbremsung sinn macht ein möglichst großes Kaliber zu verwenden. Aber neben praktischen Problemen wie den steigenden Kosten eines solchen Geschützes und der Problematik es zu bewegen spricht eines dagegen: Die Lebensdauer nimmt ab. Bei der Bismarck hatte das 15-cm-Geschütz eine Lebensdauer von 1.100 Schutz, das 38 cm aber nur eine von 252 Schuss. Das größte jemals gebaute Geschütz, die 80-cm-Kanone der Wehrmacht hatte eine nominelle Lebensdauer von nur 100 Schuss, wobei die Treffgenauigkeit durch Abnutzung schon nach 15 Schuss schlecht war. Da die Kosten des Geschützrohres aber mit dem Kaliber ansteigen entfallen ist das doppelt verhängnisvoll.
Bernd, danke für deine Artikel. Macht Spaß sie zu lesen. Manchmal, so wie jetzt, will ich aber eigentlich nur die Antwort und eben nicht alles lesen. Es wäre schön wenn deine Blogs ein knappes präzises Fazit hätten.
Kann man nun bedenkenlos in die Luft ballern oder nicht?
Da ich das nicht selbst ausprobiert habe bin ich da vorsichtig mit einer Aussage. Die Geschossenergie ist vergleichbar mit der von Luftgewehren und soweit ich weiß soll man auch mit denen nicht auf Menschen schießen.
Außerdem: welchen Sinn macht es in die Luft zu ballern?
Bei der Suche nach einem ganz anderen Artikel über diesen gestolpert.
Beat P. Kneubuehl gibt als Grenze für für das durchdringen von Haut 0,1 Joule/mm² an, beim Auge 0,06 Joule/mm². Das sind dann nach seiner Angabe für ein 0,53g schweres 4,5mm Diablo 77m/s bzw. 1,6 Joule. Für ein 8g 7,62x39mm Geschoss 34m/s bzw. 4,6 Joule. (beim Auge dann 60 1 26 2,7)
Er rechnet mit einem Schuß mit 75° Abgabewinkel, wenn noch steiler fällt das Geschoss typischerweise nicht mit der Spitze nach vorne. Bei einem 4,5 mm Luftgewehr Diablo mit einer 0,53g und v0 von 180m/s (da ist Grenze in Deutschland) schlägt es mit 40m/s auf also (0,39 Joule). Bei 7,62x39mm mit 8g und 710m/s Aufschlag mit 69m/s (51 Joule).
—
Achja, Artilleriegranaten mit Raketenmotor zur Reichweitensteigerung gibt es schon lange. siehe z.B. https://en.wikipedia.org/wiki/M549
Wirklich interessant geworden sind die aber erst seit dem man die zusätzlich auch noch Lenkbar gemacht hat. Durch den Raketenmotor haben die Geschosse eine niedrigere Genauigkeit, durch die höhere Kampfentfernung sowiso auch noch. Mit Lenkung (egal ob jetzt GPS oder Laser) gleicht man das wieder mehr als aus.
Achja, noch vergessen. Bernd, für dich als Formelmensch ist das hier bestimmt interessant:
https://archive.org/details/RheinmetallWaffentechnischesTaschenbuch1977/page/n571/mode/2up