Bernd Leitenbergers Blog

Was passiert, wenn Russland die ISS-Partnerschaft verlässt?

Russland ist bei der Zusammenarbeit bei der ISS ein vielschichtiger Charakter. Zum einen war kein Besatzungstransport seit Beginn der Station bis dieses Jahr ohne die Russen möglich. Zum anderen gab es immer wieder Störfeuer und Ankündigungen eine eigene Station aufzubauen. Die letzte dieser Äußerungen gab es am 18.4.2021 als TASS ankündigte, das man prüfe die Station ab 2025 zu verlassen, weil es immer mehr technische Probleme gäbe. Bis 2020 soll dann eine eigene Station entstehen.

Das hat mich zu diesem Blog inspiriert.

Ich fange mal an mit der Grundproblematik. Die heutige ISS entstand aus der Fusion von zwei Konzepten. Dem US-Konzept, das als Freedom begann und dann zu Alpha umbenannt wurde und einer Nachfolgestation von Mir, der Mir-2. Beide mit anderen Designfeatures. Mir 2 sollte wie Mir um ein zentrales Modul herum entstehen, das am Ende einen Koppeladapter für fünf weitere Module hat. Jedes russische Modul wird von der Proton gestartet und hat einen eigenen Antrieb. Beim US-Teil werden die Module von dem Space Shuttle in den Orbit gebracht und an die Station angedockt. Die Station wird auch im Orbit zusammengebaut und hat so viel mehr Teile, die keine druckbeaufschlagte Module sind, wie die Solarzellenarrays, den Arm auf einem Schienennetz oder außen angebrachte Paletten und Experimente. Vermitteln sollte zwischen beiden ein eigens gebauter Knoten, sinnigerweise „Unity“ getauft.

Die Grundproblematik war, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Ausgaben für Weltraumfahrt enorm absanken. Die Produktion von militärisch genutzten Satelliten oder Anwendungssatelliten blieb bestehen, aber alles, was Geld kostete und keinen direkten Nutzen versprach, hatte keine Chance zur Umsetzung. Daran hat sich auch seitdem nicht viel geändert. Das führte schon beim Aufbau der ISS zu Spannungen. Die NASA und ESA mussten für die Fertigstellung der russischen Module zahlen, die notwendig waren damit überhaupt Sojus und Progresstransporter andocken konnten und in denen auch lange die einzigen Wohnmöglichkeiten waren. Die geplanten russischen Module fielen weg, bis auf eines Nauka, das nun – zehn Jahre nach den letzten US-Modulen endlich vor dem Start steht.

Trotzdem funktionierte eines gut – der Transport von Besatzungen und Versorgungsgütern. Auf den Transport von Versorgungsgütern war man bis 2008 angewiesen, bis dahin waren die Progress die einzige Möglichkeit zur Versorgung. Bei den Besatzungen war es sogar bis letztes Jahr so. Es war ursprünglich geplant die US-Besatzungen mit dem Space Shuttle auszutauschen, doch für Notfälle hätte man ein Rettungsboot, das CRV, ein Minishuttle benötigt, das der Revision des Konzepts nach 2005 zum Opfer fiel.

Seit letztes Jahr können die USA selbst ihre Astronauten starten, sie haben bald sogar zwei Systeme dafür zur Verfügung. Kann man nun auf Russland verzichten?

Fangen wir mal an mit den Modulen. Die russischen Module sind vom Volumen her entbehrlich. Sie enthalten zwar Lebenserhaltungssysteme, doch die werden durch US-Systeme inzwischen ergänzt, die in der Summe mehr Luft und Wasser generieren. Weitere Systeme könnten diese Lücke schließen. Ich glaube nicht, dass man die Module abkoppeln würde. Zum einen gibt es Verträge über die Nutzung der ISS, aber soweit ich weiß keinen über ein „Eigentum“ an Modulen. Selbst wenn, was würde Russland mit ihnen anfangen können. Sie sind die ältesten Module, und wenn von technischen Pannen gesprochen wird, dann fällt mir Mir ein, wo diese sich die Ausfälle zum Ende der Lebenszeit massiv häuften. Der Aufbau der westlichen Module mit der Möglichkeit ganze Racks auszutauschen spricht ebenso für eine längere Betriebsdauer des US-Teils.

Russlands Teil hat dennoch eine Sonderstellung. Die Module liegen genau in der Längsachse und durch sie geht der Schwerpunktvektor. Damit müssen alle Bahnveränderungen aus diesem Teil heraus erfolgen, will man eine dadurch induzierte Rotation der Station verhindern. Daneben befinden sich alle Triebwerke, welche die Station hat und alle Treibstofftanks in diesem Bereich. Das periodisch nötige Anheben der Station führen derzeit die Progress durch. Von 2008 bis 2013 taten dies die europäischen ATV, die nebenbei auch die Station um 80 km anhoben, was den Treibstoffbedarf für diese Aufgabe auf ein Drittel reduzierte. Neben dem Anheben um das Absinken durch Luftreibung zu kompensieren, gibt es auch Ausweichmanöver bedingt durch Weltraumschrott und immer wieder müssen auch die Gyroskope für die Lageänderung entsättigt werden. All das benötigt Treibstoff. Progress und ATV konnten mit ihrem Treibstoff, solange sie angekoppelt waren, die Änderung durchführen. Sie konnten aber auch Treibstoff in die Tanks der russischen Module umpumpen.

US-Transporter sind dazu nicht fähig, sie koppeln dazu an der falschen Stelle an und sie haben nicht den richtigen Koppeladapter.

Würde Russland aussteigen so würde dies wegfallen, die ISS innerhalb von wenigen Jahren so weit absinken, dass sie aufgegeben werden müsste – wenn man nichts tut. Doch man kann etwas tun. Es wurde schon erwähnt, das die ESA mit den ATV die Aufgaben für einige Jahre übernommen hat als ihre Kompensation für die ISS Betriebskosten. Die ESA könnte wieder so ein Vehikel bauen (die originalen ATV können, weil viele Teile in den Neunzigern konstruiert wurden, wohl nicht einfach nachgebaut werden), ebenso kann dies aber auch die USA tun. Den nötigen Koppeladapter kann man genauso wie das Rendezvousradar bei den Herstellern in Russland und der Ukraine direkt kaufen. Die Module müssen aber noch funktionieren, denn an sie selbst wird angedockt, an ihnen befinden sich Kommunikationsantennen und auch eine Steuerkonsole, um das Ankoppeln abzubrechen.

Wäre das nicht der Fall, so wird’s schwierig. Theoretisch kann die NASA einen Ersatz bauen, dann wäre sie auch nicht auf den russischen Adapter angewiesen und könnten den einsetzen, der nun für die bemannten Crew Vehikel installiert wurde. Doch sehe ich derzeit keine Anzeichen bei der NASA, in den ISS-Ausbau zu investieren. Als man 2005 Space Shuttle und ISS einer Revision unterzog, um Gelder für die damals geplante Mondmission „Constellation“ freizusetzen, lies man ja auch Module weg und reduzierte die Besatzung von sieben auf sechs Personen. Nun sind wieder 7 Menschen an Bord, aber Pläne für einen Ausbau der ISS oder Ersatz von Modulen gibt es keine. Pläne gibt es für die Ankopplung von kommerziellen Modulen, aber nichts in was man selbst Geld investieren muss und die Betreiber von kommerziellen Modulen nutzen die ISS ja deswegen, weil sie ihnen Geld einspart – die Lebenserhaltung, Bahnkontrolle, komplette Kommunikation und der Besatzung-/Frachttransport wird so auf die ISS Partner ausgelagert. Sie werden also kaum in neue Module investieren, welche die russischen Module ersetzen.

Nicht zuletzt dürfte eine Rolle spielen, wie lange man die ISS noch nutzen kann. Geplant war 2005, dass man sie freigestellt und dann 10 Jahre betriebt. Das Datum ist vertraglich festgelegt und beginnt mit der Installation der Module Kibo und Columbus und die 10 Wahre sind 2019 abgelaufen. Seitdem hat man, weil der Zustand gut ist, den Betrieb immer weiter verlängert. Derzeit bis 2028, dann ist die Station genau 30 Jahre alt (wenn man vom ersten Modul Sarja aus rechnet, fertiggestellt wurde sie natürlich erst 2011, bzw. wenn man Nauka noch hinzurechnet, 2021 …). Wenn dieses Datum nicht entscheidend revidiert wird, wären es nur drei Jahre zwischen Ausstiegs Russlands und geplantem Ende. Dafür baut man sicher kein US-Modul, das die russischen Module ersetzt und man kann auch auf die Anhebung verzichten, so lange bleibt die Station noch in einem Orbit. Drehungen und ähnliche Manöver müsste man dann mit einem angekoppelten Raumschiff durchführen.

Sollte also Russland 2025 aussteigen, so glaube ich, wird das das Ende der ISS sein. Die USA planen ja derzeit eine Raumstation um den Mond und können diese dann der Öffentlichkeit als Nachfolgeprojekt verkaufen.

Ich glaube allerdings nicht daran, denn solche Drohungen gab es seitens Russland oft in den letzten Jahrzehnten. Dort ist bemannte Raumfahrt auch noch eine Sache des nationalen Prestiges. Auf der anderen Seite hat sich nun etwas geändert. Bisher wurden von Russland auch Astronauten neben den eigenen Kosmonauten befördert. Die sorgten nicht nur für Prestige nach dem Motto „Wir müssen sogar die US-Astronauten befördern, weil diese es selbst nicht können“, sondern auch für Einnahmen. Der Preis für einen „Sitz“ kletterte in den vergangenen Jahrzehnten enorm von 25 auf über 80 Millionen pro Person. Damit entfällt auch diese Mitfinanzierung der eigenen Sojusstarts. Theoretisch könnte Russland nun Touristen befördern, doch obwohl sich diese Möglichkeit schon letztes Jahr öffnete, hört man davon nichts, dagegen sind zwei Touristikflüge seitens SpaceX angekündigt, einer zur ISS und einer solo, ohne an die Raumstation anzukoppeln. So erhöht sich der finanzielle Druck. Wie teuer das für Russland ist, weiß man nicht. So kann man nur spekulieren. Allerdings geht es bei der bemannten Raumfahrt selten um Kosten. Ginge es nur um Geld, so würde sicher die NASA nicht zwei Vehikel für die Versorgung der ISS entwickeln – bei den Sojus werden drei Personen pro Flug transportiert und davon sind nur einer, maximal zwei sind Astronauten. Bei Starliner und Crew-Dragon sind es vier Personen pro Flug. Jeder Flug ersetzt so zwei Sojus-Starts für die NASA. Mehr als zwei Flüge pro Jahr benötigt man nicht, um die bisherige Besatzung im 180 Tage Rotationsverfahren zu halten, bzw. es ist ja nun schon eine Person mehr an Bord der ISS. Für zwei Flüge pro Jahr brauche ich aber keine zwei Systeme. Umgekehrt plant die NASA auch nicht, mit zwei Vehikeln nun mehr Astronauten an Bord zu bringen. Denn das verursacht Folgekosten – Folgekosten für Wohnmodule, aber vor allem Ferntransporte. Davon gibt es jetzt schon sieben bis acht pro Jahr. Mit jeder Person braucht man mehr Fracht. 2019 benötigte die Station knapp 30 t Fracht, wovon nur 50 % von den USA stammten. Ohne Russland würden dessen 32 % wegfallen. Mit jedem Astronauten benötigt man 5 t mehr Fracht, die nach dem OIG Report pro Kilogramm 71.800 Dollar kosten, also fast 360 Millionen Dollar pro Jahr mehr. Diese kosten sind viel höher als die reinen „Sitzplatzkosten“, die liegen nach einem anderen OIG Report bei 90 Millionen Dollar bei Boeing und 55 bei SpaceX – zwei Besatzungswechsel pro Jahr kosten also maximal 180 Millionen für den Transport der Besatzung aber 360 Millionen für die Fracht die sie benötigen.

Das wäre die wichtigste Folge, die ISS würde, selbst wenn man keine russischen Module ersetzt, und sie absinken lässt im Betrieb teurer. Mindestens um ein Drittel, das ist der derzeitige Anteil Russlands. So halte ich es für wahrscheinlich das man, das 2028 Datum als Betriebsende der ISS anstrebt, wenn Russland aussteigt. Doch damit rechne ich nicht wirklich, wenn dann, weil nun die ISS für Russland zu teuer wird, aber bestimmt nicht, weil sie eine eigene neue Station aufbauen wollen.

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