So nun weiter mit Teil 2. In Teil 1 geht es um die Raketen selbst. Das Mercury-Programm verwendete zwei Raketen: die Redstone und die Atlas. Während die Redstone die Kapsel auf eine suborbitale Bahn brachte und es ermöglichte, wichtige Ereignisse der Mission zu testen, war die Atlas die eigentliche Trägerrakete für die Orbitalphase. Die Mercury-Kapsel hatte keinen Bordcomputer und basierte auf normaler Elektrotechnik. Die beiden Raketen unterschieden sich erheblich in ihrer Entwicklung und technischen Komplexität. Die Redstone war eine veraltete Rakete, während die Atlas noch in der Entwicklung war und zahlreiche Detailverbesserungen aufwies. Obwohl die Redstone keine orbitalen Flüge ermöglichte, nutzte die NASA sie als Zwischenlösung, bis die Atlas einsatzbereit war. Dabei gab es viele Änderungen an der Redstone, relatv wenige an der Atlas weil die Air Force sich dem widersetzte anders als das ABMA.
Die NASA hatte, da die Raketen von der Air Force kamen, keine direkte Weisungsbefugnis an Convair, dem Hersteller der Atlas. Die USAF konnte Ansinnen zwar nicht ablehnen, aber sie konnte die Arbeit erschweren, indem sie auf ihren „Procedures“ bestand, viel Papier, das auszufüllen oder einzureichen war.
Bei den Missionen ging der Kompetenzstreit weiter. So gab es in der Missionskontrolle den Range Safety Officier (RSO) der Air Force, der darauf achtete, dass die Rakete keine Gefahr für die Allgemeinheit war. Doch dürfte dieser die Rakete sprengen, bevor die Kapsel abgetrennt wurde? Wenn die Kapsel einen Defekt hatte, dürfte der Flugdirektor ASIS auslösen und damit auch die Sprengung der Rakete verursachen? Man löste dieses Dilemma, indem der Knopf für die Selbstzerstörung erst das ASIS auslöste, 3,3 s später das Signal zur Selbstzerstörung sandte.
Das ABMA war deutlich hilfsbereiter, aber das STG hatte komplett andere Vorstellungen von der Redstone als das ABMA. Das Thema habe ich schon mal ausführlich besprochen, es geht um die Redundanz. Werner von Braun wollte „positive Redundanz“, also eine Rakete durch zusätzliche Geräte absichern, z.b. indem Teile mehrfach vorhanden waren. Die STG wollte negative Redundanz, das Entfernen aller für eine Mercurymission nicht nötigen Teile. Da das ABMA in die NASA wollte, gab man nach, aber die Probleme die dann mit der Redstone auftraten waren direkt auf die rund 800 Änderungen die die STG durchsetzte zurückzuführen.
Anders lief es bei der Atlas. Die Air Force war von der Atlas überzeugt. Sie war deswegen anfangs nicht bereit, die Atlas den Wünschen der STG anzupassen. Doch kurz darauf häuften sich auch bei den Air Force Atlas D Tests die Fehlstarts. Viele Atlas explodierten schon am Boden. So verwundert es nicht, dass der Fluchtturm der Mercurykapsel auch die Kapsel in Sicherheit bringen musste, wenn er am Boden ausgelöst wurde. Daraufhin revidierte die Air Force ihre Meinung und setzte zahlreiche von der NASA geforderte Anpassungen bei den Trägern um.
Unter der Leitung von Bernhard Hohmann, der schon Testpilot des Raketenjägers Me-163 war, also wusste, wie riskant es ist, auf einer Rakete zu fliegen, erarbeitete die Aerospace Corporation, als unabhängige Non-Profit-Organisation das ASIS und führte ein Review der Atlas durch. Die Aerospace Corporation schlug weitere Maßnahmen vor, um die Rakete sicherer zu machen. Unterstützt wurde Hohmann von Ernst Letsch von der STG. Nicht alle Maßnahmen wurden umgesetzt, so gab Hohmann die Empfehlung, bewährte, anstatt neue High-Tech-Teile einzusetzen, dem folgten NASA und STG nur teilweise.
Die wichtigste Maßnahme war es, ein rigides Qualitätsmanagement bei Convair einzuführen, jeden Arbeitsschritt zu dokumentieren und wo immer es möglich war, Teile zu kontrollieren. Das fing bei den Rohmaterialien an, die bisher noch nicht kontrolliert wurden, und endete mit einer formalen „Flight Readiness“ Abnahme der Rakete nach dem Rollout. Es dauerte zwei Jahre, bis das Qualitätsmanagement in der Produktion umgesetzt war.
Die Redstone wurde schon nach solchen Standards produziert. Das war allerdings in der US-Industrie die Ausnahme. Erst nach dem Fehlschlag von MA-1 nahm auch die USAF die Vorschläge wirklich ernst. Hohmann hatte vor einem solchen Unglück gewarnt, da das Gewicht der Kapsel zusammen mit der Steuerung, Adapter und Fluchtturm über 3.750 Pfund lag, die strukturelle Belastungsgrenze der Atlas.
Entsprechend verlief auch das Flugerprobungsprogramm bei beiden Trägern unterschiedlich. Sowohl Redstone wie Atlas hatten unbemannt Starts vor den bemannten. Zum einen um den Träger und die Kompatibilität zur Kapsel zur testen, dann vor dem bemannten Einsatz ein Start mit Schimpansen als „Passagiere“.
MR-1 (Mercury Redstone 1) hatte die Aufgabe die Kapsel zusammen mit der Redstone zu erproben, Beim ersten Start MR-1 am 21.11.1960 hob die Rakete zunächst ab. Nachdem die Redstone 10 cm Höhe erreicht hatte, schaltete sich das Triebwerk ab und sie fiel zurück auf die Startplattform. Dabei wurden die Finnen verbogen. Trotzdem stand die Rakete stabil. Zumindest funktionierte der Rettungsturm – er sollte ausgelöst werden, wenn die Rakete vorzeitig Brennschluss hatte. Das war der Fall. Die Ursache war auf einer der von der STG gewünschten Änderungen zurückzuführen. Es gab zwei Kabel zur Missionskontrolle, ein Datenkabel und ein Stromversorgungskabel. Bei der originalen Redstone ist das Datenkabel kürzer und wird beim Abheben zuerst abgetrennt. Damit sollte sichergestellt werden, dass beim versehentlichen Abfallen des Datenkabels die Stromversorgung erhalten bleibt. Das belässt die Rakete in einem sicheren Zustand, damit Techniker an ihr arbeiten können. Für Mercury wurden die Kabel ausgewechselt. Nun war das Stromkabel einen Zoll (25,4 mm) kürzer und wurde zuerst abgetrennt. Das löste den vorzeitigen Brennschluss des Triebwerks aus. Die Kapsel kümmerte das nicht. Nach der implantierten Logik folgte auf den Brennschluss der Redstone die Abtrennung des Fluchtturms und bei Überschreiten eines Mindestdrucks die Auslösung der Fallschirme. Auf nahezu Meereshöhe war der Druck natürlich hoch genug für die Auslösung der Fallschirme, ebenso wie er hoch genug war, das die fluoreszierende Flüssigkeit freigesetzt wurde, die auf dem Meer das Auffinden der Kapsel erleichtern sollte. Nun saß da eine startbereite Rakete auf der Plattform, die Fallschirme wurden vom Wind entfaltet, aber es gab keine Verbindung zu ihr. Nach ausführlichen Diskussionen entschloss man sich solange zu warten bis die Batterien entladen waren und sendete dann einen Techniker zur Rakete.
Dadurch flog die Kapsel 212 km weiter als geplant. Der Schimpanse Ham war deswegen hohen Beschleunigungskräften ausgesetzt, die für einen Astronauten gefährlich waren. Ursache war ein sich durch Schwingungen zu weit öffnendes Ventil. Auch die Änderung bei der Auslösung des Fluchtturms nach dem MR-1 Vorfall war schuld.
Das führte zu einem weiteren Testflug MR-BD (BD für Booster Development), bei dem die Struktur versteift wurde. Das beim letzten Flug defekte Ventil, das zu einer zu hohen Förderleistung der Turbopumpe (und damit zu hohem Schub) geführt hatte, wurde durch eine neue Konstruktion ersetzt. Dieser Flug am 24.3.1961 war erfolgreich. Die komische Bezeichnung MR-BD kam von der STG, die keinen weiteren Test haben wollte, stattdessen möglichst schnell Alan Shepard starten. Wernher von braun dem Sicherheit über alles ging, setzte diesen Test aber durch. Chris Kraft, damals Missionsleiter philosophiert in seinen Memoiren immer noch darüber dass wenn Alan Shepard an diesem 24.3.1961 gestartet wäre, dies 17 Tage vor Gagarin gewesen wäre. Nun ja, das stimmt, aber selbst dann hätte Gagarin mit einem Orbitflug Shepards Leistung doch deutlich überboten. So startete Alan Shepard am 5.5.1961 und mit diesem Erfolg im Rücken beschloss John F. Kennedy das Apolloprogramm. Wer weiß ob es dazu gekommen wäre, wäre man zumindest erster gewesen der die 100 km Grenze zum Weltraum überschritten hat?
Auch bei der Atlas lief alles nicht nach Plan ab. Ohne offizielle Mercury-Nummerierung ist der Start Big Joe 1, in Anlehnung an die Starts der Little Joe, die den Fluchtturm testeten.
Zuerst verlief nach dem Start am 9.9.1959 alles nach Plan, doch als die Boostertriebwerke der Atlas Brennschluss hatten, wurden sie nicht abgetrennt. Der Triebwerksblock wog über 3 t, mehr als die Trockenmasse der Restatlas mit dem Zentraltriebwerk betrug. Dieses musste nun mehr Masse bewegen und konnte die Zielbahn nicht erreichen. Zudem hatte das Zentraltriebwerk 14 s zu früh Brennschluss.
Die Kapsel wurde in zu geringer Höhe (140 anstatt 161 km) abgetrennt. Die Geschwindigkeit war um fast 1 km/s zu gering. Als Folge flog die Kapsel nur 2.292 km weit, rund 800 km von der geplanten Landestelle entfernt.
Für die USAF und Convair war der Test aber nicht erfolgreich. Es war das erste Mal, das eine Atlas ihre Boostertriebwerke nicht abwarf. Vorher verneinte Convair sogar, dass dies vorkommen konnte. Ursache war ein ausgefallener elektrischer Kontakt. Auch der vorzeitige Brennschluss des Zentraltriebwerks war eine Fehlfunktion. Offiziell ist der Flug daher seitens der Air Force als Fehlschlag eingestuft.
Erstaunlicherweise fand der erste Einsatz einer Atlas noch vor einer Redstone statt, die ja die Kapsel nur suborbital testen sollte. Doch die NASA rechnete damit, dass es lange dauert, die Orbitalmission zu qualifizieren. Schließlich gehört dazu auch das gesamte Bodennetzwerk und die Atlas würde mehr Testflüge als die Redstone benötigen. Dieser Start war der 31-ste. 25 Starts in weniger als neun Monaten, da sollte man meinen, die Atlas wäre ausgereift: Das Gegenteil war der Fall. Sie hatte bis zu diesem Start eine Erfolgsquote von 60 Prozent. Deke Slayton, unter den Astronauten für die Atlas verantwortlich und bei vielen Testflügen vor Ort, meinte er hätte unzählige scheitern sehen.
MA-1 (Mercury Atlas 1) war ein suborbitaler Test. Die Atlas sollte das Raumschiff auf eine Gipfelhöhe von 181 km bringen und auf 5,8 km/s beschleunigen. 16 Minuten nach dem Start sollte die Kapsel nach einer Spitzenabbremsung mit 16,3 g in 2.400 km Entfernung geborgen werden. Die Flugkurve war steiler als bei einem normalen Wiedereintritt und würde daher die Belastungen einer Orbitmission übertreffen.
Die Atlas 50D war eine Standard-ICBM, wie sie die Air Force einsetzte, die einzige Adaption für Mercury war, dass man den Sprengkopf durch einen Adapter und ein Modell der Mercurykapsel ersetzte.
Es war Freitag, der 29.7.1960. Es regnete über dem Cape und eine dichte Wolkendecke hing über dem Startplatz. So konnten die Kameras die Atlas nur etwa eine Minute lang verfolgen. Die Radarüberwachung würde davon aber nicht beeinträchtigt werden. Die Air Force konnte die STG mit dem Argument „Krieg kennt kein Wetter“ überzeugen, den Countdown nicht abzubrechen. Er wurde trotzdem mehrfach unterbrochen.
Zuerst schien alles reibungslos zu verlaufen, die Atlas verschwand in den Wolken. Kurz darauf meldete der für die Bahnüberwachung zuständige FIDO „Radar is tracking multiple Targets“ und die Kurve der Atlas stieg zuerst nicht mehr an und wurde dann chaotisch. Chris Kraft schaute zum Range Safety Officier, der jedoch nur sagte „I didn‘t do it“. Die Atlas war in 9,8 km Höhe bei einer Geschwindigkeit von 430 m/s explodiert. Die Kapsel landete nach 220 s, 9,6 km vom Startplatz entfernt im Wasser. ASIS war zwar aktiv bei dem Flug, konnte das Raumschiff aber ohne Fluchtturm nicht von der Atlas trennen.
Als Ursache stellte sich heraus, was schon vorher Bernhard Hohmann kritisiert hatte. Die Mercurykapsel hatte eine andere Form als der Sprengkopf und war rund 600 kg schwerer. Beim Durchqueren der Zone mit maximaler aerodynamischer Belastung gab der Sauerstofftank unterhalb der Kapsel nach, wo auch die Wand am dünnsten war. Die Kräfte die auf die dünne Wand einwirkten waren zu groß. Die Air Force weigerte sich etwas zu verändern, musste auf Druck der STG aber dann die Zone unterhalb der Kapsel verstärken. Später bekamen alle Atlas, die als Trägerraketen eingesetzt wurden, eine Wandverstärkung und wurden deutlich schwerer: eine Atlas ICBM wog trocken unter 5.400 kg, die Version als Trägerrakete 7.400 kg.
Doch dieses Manöver blieb aus. Die Atlas flog weiter senkrecht nach oben. Der FIDO (Flugdynamikoffizier, der die Flugbahn überwacht) meldete „Negative Pitch Program“. Als die Atlas nach einigen Sekunden immer noch nicht ihr Programm startete, klappte der Range Safety Offizier die Abdeckung für die Selbstzerstörung auf. Er beobachtete weiter die Bahn auf dem Schreiber und wie sie sich immer weiter der Grenzlinie näherte, ab der die Rakete gesprengt werden musste, um zu verhindern, dass sie (oder ihre Trümmer) über bewohntem Gebiet niedergehen.
Nach 40 s war die Grenze überschritten und die Selbstzerstörung wurde initiiert. Drei Sekunden später explodierte die Rakete. ASIS löste sofort aus, die Kapsel erreichte eine Scheitelhöhe von 7,2 km und landete 1,8 km vom Startpunkt entfernt im Atlantischen Ozean. Sie wurde nach 20 Minuten geborgen und bei der folgenden Mission erneut verwendet.
Die genaue Ursache des ausbleibenden Neigeprogramms konnte nicht festgestellt wurde. Anhand der Telemetrie konnte man die Steuerung als Auslöser ausmachen. Die Triebwerke hatten normal funktioniert. Eine genauere Untersuchung konnte die Schaltung, den Flight-Programmer, der die Vorgabe für die einzelnen Schritte enthielt, verantwortlich machen. Was den Flight-Programmer aber zum Versagen brachte, wurde nicht festgestellt.
Beide Träger versagten zweimal, doch die Versager waren unterschiedlich, ebenso ihre Auswirkungen. Bei MR-1 war eigentlich nichts passiert, was sie Besatzung gefährdet hätte. Vielmehr offenbarte das Abschalten des Triebwerks kurz nach der Zündung eklatante Fehler in der Logik der Mercurykapsel. Die Kapsel wurde auch wiederverwendet, die Redstone, gemäß den strengen Richtlinien die Wernher von braun aufgestellt hatte dagegen nicht.
Ebenso funktionierte die Redstone bei MR-2 weitestgehend normal, sie hatte sogar eine Überschussleistung (auch bei Mercury-Atlas 2 kam es dazu, allerdings weniger stark). Bei einem bemannten Einsatz hätte der Astronaut eine hohe Spitzenbeschleunigung durch den Fluchtturm durchmacht, die die gab es auch bei der Atlas. Das die Kapsel zu weit flog war ärgerlich, aber kein grundlegendes Problem. Das passierte auch beim Flug Mercury Atlas 7 mit Scott Carpenter, als dieser den Zeitpunkt für die Auslösung der Bremstriebwerke verpasste.
Dagegen hatte bei Big Joe die Atlas ihre Boostertriebwerke nicht abgeworfen und zu früh Brennschluss. Eine bemannte Mission wäre damit definitiv gescheitert gewesen und bei MA-1 explodierte sogar die Atlas, ein Fluchtturm zum Retten der Mission war damals noch nicht an Bord. Der rettete die Mission bei MA-3, als die Atlas eine Kursabweichung hatte. Alle diese Fehler waren typische Fehler einer neuen Rakete die nur wenige Flüge absolviert hatte.