Die Entwicklungen der ICBM in den USA und der Sowjetunion
Die Entwicklung der ICBM Interkontinentalraketen) in den USA und der Sowjetunion verlief erstaunlicherweise oft parallel, aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Zeit mal das kurz zusammenzufassen.
Schritt 1: Wir wollen eine ICBM
Beide Nationen bauten erst einmal auf der A-4 auf, die ihnen mehrere Jahre Entwicklungsarbeit und Unsummen ersparte. Die A-4 hatte Entwicklungspotenzial und so entstanden auf ihrer Basis die R-2 und R-5 in der Sowjetunion und die Redstone in den USA. Doch mit einem Triebwerk kamen auch diese leistungsgesteigerten Versionen nicht an die interkontinentale Reichweite. Eine ICBM erforderte eine viel größere Rakete. Die Antriebe für ihre Entwicklung waren aber in Ost- und West unterschiedlich.
Die Sowjetunion hatte nie eien strategische Bomberflotte aufgebaut, sie kopierten sogar die B-29, nachdem einige Maschinen während des zweiten Weltkriegs auf ihrem Gebiet notgelandet waren und stellten sie als TU-4 in Dienst. Es gab, solange die Sowjetunion Krieg mit Deutschland hatte, auch nicht den Bedarf für Bomber mit hoher Reichweite, denn die Front verlief ja lange über eigenem Territorium. Eine ICBM offerierte die Möglichkeit einer alternativen Lösung. Daher wurde der Bau der R-7 „Semjorka“ schon wesentlich früher als das amerikanische Gegenstück Atlas genehmigt.
Bei den USA sah man sich nach Kriegsende aber als alleinigen Besitzer der Atombombe und rüstete erst einmal ab. Heute würden wir sagen, man fuhr die „Friedensdividende“ ein. Mit dem Jahr 1949/50 änderte sich dies. Innerhalb eines Jahres zündete zum einen die Sowjetunion ihre erste eigene Atombombe, wurde China kommunistisch und brach der Koreakrieg aus. Bei dem Koreakonflikt gerieten die von den USA geführten UN-Streitkräfte schnell an den Rand einer Niederlage, sodass General McArthur sogar für den Einsatz von Atomwaffen plädierte. Dazu kam es nicht, aber zu einem Rüstungsprogramm in allen Bereichen. Dabei wurden auch Mittel für die erste ICBM Atlas freigegeben.
Als Treibstoff nutzte man in beiden Fällen Kerosin und als Oxidator flüssigen Sauerstoff. Das Kerosin hatte einen höheren Energiegehalt, als der bisher verwendete Alkohol, flüssiger Sauerstoff wurde schon in den Dreißiger Jahren als Oxidator verwendet. Er verdampft aber schon bei -183 °C. Daraus ergaben sich für eine Interkontinentalrakete aber massive Nachteile. Die Raketen konnten so nicht dauerhaft betankt bleiben, sie konnten auch nicht aus einem Silo heraus starten. Die R-7 und Atlas D konnten nicht in Silos stationiert werden, die Atlas E+F konnten dort zumindest bleiben, mussten zum Start aber an die Oberfläche gefahren werden.
Beide Raketen verbindet auch, dass sie die Zündung einer Stufe nach dem Start vermieden. Bei der Atlas wurde der schwerste Teil der Triebwerke nach dem Start abgeworfen und bei der R-7 die Außenbooster. Anders wäre mit nur einer Stufe nicht die Geschwindigkeit einer ICBM erreicht worden.
Schritt 2: eine mehrstufige ICBM
Beide Nationen gingen während die Entwicklung der ersten Generation noch lief, an den zweiten Schritt. Mit der Einführung einer echten zweiten Stufe konnte die Leermasse der Rakete bei Brennschluss und damit die Nutzlast beträchtlich gesteigert werden. An der Treibstoffkombination ändert sich jedoch nichts. Bei den USA war dies die Titan I, sie entstand als Backup-Projekt zur Atlas, auch weil die Atlas-Entwicklung als riskant angesehen wurde. In der Sowjetunion entstand die R-9. Sie sollte viel schneller startbereit als die R-7 sein und länger voll aufgetankt in Bereitschaft gehalten werden. Beide Raketen waren erheblich kleiner und leichter als ihre Vorgänger. Die Titan war für die Stationierung in Silos entworfen worden. Wie die Atlas musste sie aber für den Start aus dem Silo herausgefahren werden. Bei der R-9 war die Stationierung in Silos eine Option.
Bedingt durch den raschen Fortschritt der Raketentechnik in jeder Zeit – in den USA lagen zwischen Entwicklungsbeginn der Atlas und der Minuteman als letzter Generation gerade mal fünf Jahre – waren beide Raketen nur kurz im Einsatz. Die Titan I wurde immerhin in voller Zahl stationiert, bei der R-9 wurde die Produktion vorzeitig eingestellt.
Schritte 3: Dauerhafte Startbereitschaft
Auch wenn der Begriff „MAD“ erst später von US-Verteidigungsminister McNamara geprägt wurde, war beiden Nationen wichtig, dass sie einen Angriff beantworten konnten, bevor die Nuklearwaffen einschlagen. Sonst wären die ICBM nur als Erstschlagswaffe sinnvoll. Selbst bei den in Silos stationierten Raketen war doch zweifelhaft, ob der Fahrstuhl und das Wegschieben des Silodeckels nach einem Einschlag noch funktionieren würden. Dafür musste zum einen eine ICBM dauerhaft startbereit sein und dies musste in der Zeitfrist, die für einen Gegenschlag zur Verfügung stand – 20 bis maximal 30 Minuten geschehen.
Beide Nationen suchten daher nach einer lagerfähigen Treibstoffkombination. Eigentlich betrifft das nur den Oxidator. Schon das dritte Reich setzte Salpetersäure als Oxidator ein, sie ist lagerfähig. Sie kann mit Kerosin verbrannt werden, wie dies auch in der Mittelstreckenrakete R-12 erfolgte, beide Nationen setzten aber auf Hydrazine, die mit Stickoxiden oder Salpetersäure sich spontan selbst entzünden, weil dies die Zündung der Rakete vereinfacht.
Die R-16 setzte auch Salpetersäure ein, die anderen Raketen der dritten Generation Titan II und UR200 dagegen Stickstofftetroxyd, ein verflüssigtes Gas das noch etwas mehr Energie liefert.
Diese Raketen erfüllten endlich die Anforderung des Militärs nach dauernder Startbereitschaft und kurzen Vorbereitungszeiten und wurden viel länger als die Vorgänger stationiert. Die USA bauten nur 54 Titan II, weil sie noch während deren Entwicklung die Entwicklung der Minuteman starteten, die Sowjetunion baute sogar zwei Raketen mit ähnlichen Leistungsdaten, die UR200 und R-16, stationierte aber nur die R-16 dafür mit 200 Exemplaren viermal so viele wie die Titan.
Schritt 4: Kleine Sprengköpfe, höhere Genauigkeit, Massenproduktion
Nicht nur die Raketentechnik machte deutliche Fortschritte im letzten Jahrzehnt seit Beschluss der R-7/Atlas. Es gelang auch Wasserstoffbomben viel leichter zu bauen, wenngleich mit geringerer Sprengkraft. Die ersten Typen hatten schwere Sprengköpfe, die einige Tonnen wogen mit 3 bis 10 MT Sprengkraft. Diese Sprengkraft wurde benötigt, weil die Ziele natürlich primär die Silos des Gegners waren. Wenn man Dei Silos aber nicht genau treffen kann, so braucht man eine hohe Sprengkraft, weil ein dicker Silodeckel doch ein guter Schutz ist. Die analogen Lenkungen wurden aber auch immer besser. Die USA führten auch erste digitale Computer ein, die nochmals die Treffgenauigkeit anhoben. Damit stieg die Zielgenauigkeit dauernd an, sprich die statische Abweichung vom Zierpunkt sank laufend.
Beides kombiniert – ein kleinerer Sprengkopf, der die kleinere Sprengkraft durch eine höhere Treffgenauigkeit ausgleicht, führte dazu, dass nun die neuen ICBM nur noch 30 bis 45 t anstatt 120 bis 150 t wogen. Sie waren damit viel billiger und wurden nun massenhaft produziert – sowohl die Minuteman, wie auch das sowjetische Gegenstück UR100 erreichten eine vierstellige Stückzahl.
Schritt 5: MIRV
Wenn man einen Sprengkopf kleiner machen kann, so kann man auch anstatt einem schweren mehrere kleine mitführen. MIRV – mehrere unabhängig lenkbare Sprengköpfe konnten so viel besser Silos angreifen, die der Gegner mit großem Abstand voneinander platzierte. Für MIRV brauchte man keine neuen Trägerraketen, sondern musste nur die bestehenden umrüsten. So explodierten in den siebziger Jahren die Zahl der Sprengköpfe.
Differenzen
Es gab neben der Trilateralentwicklung auch deutliche Differenzen. Ein Unterscheide liegt in der Verwendung fester Treibstoffe. Erreichten lagerfähige flüssige Treibstoffe zwar die Anforderungen der Militärs waren sie jedoch nicht unproblematisch. Bei beiden Nationen gab es mehrere Unfälle mit Raketen mit diesen Treibstoffen bei denen Silos zerstört und Menschen getötet wurden. Die lagerfähigen flüssigen Treibstoffe griffen die Materialien an, Raketen hatten eine begrenzte Einsatzdauer. Feste Treibstoffe sind dagegen ungiftig, je nach Mischung auch nicht explosiv.
Die USA gingen früher an die Entwicklung neuer Treibstoffe. Die ersten festen Treibstoffe basierten noch auf den Treibladungen für Munition. In den Fünfziger Jahren wurden neue Kombinationen entwickelt. Schon die erste US-Rakete Vanguard setzte eine mit festen Treibstoffen eingesetzte Oberstufe ein. Diesen Schritt tat Russland deutlich später so setzte man hier noch sehr lange – bis in die Achtziger Jahre – vor allem auf Raketen mit flüssigen Treibstoffen. Der erste Versuch mit der RT-1 scheiterte. Der Nachfolger RT-2 wurde nur in kleiner Zahl stationiert. Stattdessen baute die Sowjetunion immer größere Raketen mit lagerfähigen Treibstoffen. Die R-36 als Nachfolger der R-16 war schon schwerer als die Titan II. Ihre Nachfolgerin die R-36M überschritt dann die 200 t Grenze bei der Startmasse. Nach wie vor wurde ein Teil dieser Raketen nicht mit MIRV ausgerüstet, sondern mit Einzelsprengköpfen enormer Sprengkraft. Derzeit stellt Russland mit der RS-28 einen Nachbau der R-36M in Dienst, ist dem Konzept also treu geblieben.
In den USA dominierten sehr bald Raketen mit festen Treibstoffen. Sie basierten auf Entwicklungen für U-Boot Raketen, die sehr kompakt sein mussten. Feste Treibstoffe sind nicht nur ungefährlicher als flüssige Treibstoffe, sondern die sind auch dichter, wodurch die Rakete kleiner wird.
Russland sah sich in den frühen sechziger Jahren strategisch im Nachteil, man hatte viel weniger Raketen stationiert als die USA. So kam man auf das Konzept des FOBS – eine Rakete bringt einen Sprengkopf in den Orbit und deorbitiert ihn vor den USA. Die Vorwarnzeit sinkt so auf 3 bis 5 Minuten, weil die Flugbahn viel flacher ist und er kann die USA aus jeder Richtung erreichen – nicht nur über den Nordpol in dessen Nähe die USA ihre Frühwarnstationen bauten. Diese Entwicklung wurde aber eingestellt. Angeblich will Russland FOBS mit der RS-28 wieder aufnehmen.
Ebenso schaffte Russland es zuerst eine mobile ICBM zu bauen, also eine die ICBM nicht in einem Silo stationiert ist. Versuche mit schienen-gestützten System scheiterten in beiden Ländern aber die mobilen Feststoffraketen der Sowjetunion auf Transportvehikeln wurden gebaut. Die USA hatten die Idee früher, konnten sie bei den Minuteman I aber nicht umsetzen. Die USA zogen nach den mobilen RT-2M mit der MX ICBM nach, verwarfen wegen der Kosten aber das mobile System und stationierten sie in Silos. Nicht zuletzt offerieren U-Boote eine noch bessere Lösung als straßenmobile Raketen.
Hmm, habe ich gestern vergessen auf Kommentar abschicken zu klicken oder im Spamfilter untergegangen?
Die RT-23 bzw. SS-24 Scalpel ist als Schienengestützte ICBM eingeführt worden.