Bernd Leitenbergers Blog

Das europäische Dilemma

Den heutigen Artikel hatte ich schon länger vor, aber eine aktuelle Mail hat mich daran erinnert:

Sehr geehrter Herr Leitenberger,

Seit Langem nutze ich Ihre Internet-Seiten und besitze auch Bücher von Ihnen. Die Antwort auf meine jetzige Frage ist wahrscheinlich schon implizit in Ihren Texten enthalten, aber für mich schwierig, sie dort herauszudestillieren. Sie lautet: Wie ist es möglich, dass die neuen privaten Raumfahrt-Unternehmen wie z.B. SpaceX die Transport-Kosten auf z.T. auf weniger als die Hälfte senken können, ohne irgendeine grundsätzlich neue Technologie einzusetzen – was die NASA in Jahrzehnten, trotz jeder Menge an Geld und kompetentem Personal nicht geschafft hat?

Wenn Sie wenig Zeit haben, wäre ich auch mit Hinweisen auf Ihre entspr. www-Texte zufrieden. Wenn Sie ausführlicher antworten, würde das sicher auch viele Ihrer Fans interessieren.

Mein spezielles Interesse gilt den raketenlosen Möglichkeiten (WIKI: non rocket space launch), vor allem dem unrealisierbaren space-elevator und dem durchaus realisierbaren space-catapult. Mit beidem habe ich mich als Physiker ausführlich beschäftigt und könnte Ihnen Informationen schicken. Gruß, XXXX“

(XXXX ersetzt den echten Namen des Lesers)

Nun wird Ariane 6 ja jetzt schon totgesagt, bevor sie gestartet ist. Sicher, es gab Verzögerungen um Jahre. Die sind bei der Entwicklung von Raketen nicht ungewöhnlich, dazu kam in diesem Fall die Corona-Epidemie die zusätzlich verzögert hat, aber vier Jahre sind doch schon ziemlich lang. Beim Vorgänger Ariane 5 waren es trotz viel größerer technischer Sprünge nur zwei Jahre. Da ist es auch nicht tröstlich, dass dies bei dem US-Gegenstück Vulcan auch so ist. Eine echte Begründung außer Corona fand ich nicht, denn anders als bei Ariane 5 musste man ja ja viel weniger neue Technologien entwickeln, die eine Entwicklung verzögern können.

Ich fange mal an, warum die neuen Raketenfirmen günstiger sind als die etablierten Firmen in den USA aber auch Europa. Dazu muss man wissen, wie eine Rakete gebaut wird. Wenn Lockheed Martin – Hersteller der Vulcan – diese Rakete baut, dann fertigt er nicht alles selbst. Die Nutzlastverkleidung kommt von Oerlikon, einem Schweizer Unternehmen, dass auch die Verkleidungen für die Ariane und Vega produziert und eigens für die Vulcan ein Werk in den USA dafür baute. Die Inertialplattform kam früher von Honeywell, der Bordcomputer von IBM. Die Triebwerke fertigen Blue Origin und Rocketdyne. Was Lockheed Martin selbst baut, sind die ganzen Strukturen und sie bauen alles zusammen (Systemintegration). Diese Aufteilung kann man dann noch weiter in die Tiefe durchführen und man wird noch mehr Firmen finden, die einzelne Subteile bauen.

Diese Vorgehensweise ist nicht neu, sie ist Industriestandard. Auch bei Flugzeugen – aus der Luftfahrtindustrie entwickelte sich ja die Raumfahrtindustrie, nicht umsonst bauen die viele Konzerne die Flugzeuge bauen auch Raketen – ist dem auch so. Und auch in der Automobilindustrie ist dem so, da sind die Zulieferbetriebe teilweise selbst riesige Konzerne wie Continental oder ZF Friedrichshafen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, das der spezialisierte Konzern viel mehr Know-How hat, er liefert ja seine Teile nicht nur an eine Firma, sondern auch die Konkurrenten. Als Paradebeispiel kann das Aerojet Triebwerk R-4D gelten, ein 400 Newton Triebwerk, das in vielen Satelliten, Raketen, Raumfahrzeugen (Apollo, Space Shuttle) steckt und seit Jahrzehnten gebaut wird. Durch die höhere Stückzahl kann Aerojet es auch billiger produzieren, als wenn Lockheed Martin nur einige dieser Triebwerke pro Jahr für seine eigenen Projekte braucht. Als Nachteil will der Subunternehmer natürlich auch was verdienen und seine Forschung über den Erlös finanzieren.

SpaceX hat als erste Raumfahrtfirma sich davon abgewandt und ist dazu übergegangen, möglichst alles selbst zu produzieren. Das ist nicht ohne Risiken, denn natürlich muss man auch dann viel mehr Erfahrung haben, als wenn man qualifizierte und getestete Teile nur zusammenbaut. Das ist genauso wie wenn man einen PC aus allen Einzelteilen, beginnend vom Transistor selbst konstruiert oder ob man nur Mainboard, SSD, Prozessor, Speicher und Gehäuse zusammenbaut. Entsprechend gab es auch Rückschläge. Der Flug von CRS-2 schlug fehl. Da dies eine NASA-Mission war, gab es einen offiziellen Untersuchungsbericht seitens der NASA und der stellte fest, dass SpaceX bewusst um Kosten zu sparen Streben einbaute, die nicht Aerospace-Grade hatten, also nicht für den Einsatz zertifiziert waren sondern nur „Industrial Grade“, die nicht für die tiefen Temperaturen im Sauerstofftank qualifiziert sein mussten. Eine Strebe brach, ein Heliumtank machte sich selbstständig und explodierte.

Bei SpaceX denke ich ist das weniger eine wirtschaftliche Entscheidung gewesen, als vielmehr eine Folge des Charakters von Elon Musk, der zumindest bei anderen knickrig ist. Gewerkschaften gibt es bei den US-Werken von Tesla nicht, die IG Metall brauchte auch bis Oktober 2023 um in der Gigafactory einen Betriebsrat zu gründen, und das bei einer Firma die zehntausende von Arbeitern hat und nicht einer kleinen Klitsche. Während der Coronaepidemie drohte Musk Arbeitern, die den gesetzlich verordneten Lockdown befolgten, mit Kündigung und bei „X“ vormals Twitter hat er ja auch erst mal die Hälfte aller Leute entlassen ohne zu schauen ob man die jeweilige Person noch braucht, mit fatalen Folgen, der Umsatz brach ein und er versuchte dann wieder einen Teil der verlorenen Belegschaft zurückzugewinnen. Aber andere Firmen folgten diesem Beispiel. Besonders bei einem kleinen Träger macht dies Sinn, da man hier noch weniger auf Standardteile zurückgreifen kann.

Ein anderer Punkt, den ich zumindest von SpaceX weiß, er kann woanders anders sein, ist, dass die Firma auch auf Kosten des Personals spart. Das Arbeitsumfeld wird von den Mitarbeitern als schwierig und von Konkurrenz geprägt beschrieben. Nur die Hälfte der zuerst auf Probe angestellten wird übernommen. Der Altersdurchschnitt ist niedrig und liegt bei 26. Nur ein Drittel hat einen weiteren Abschluss nach der Schule, die meisten werden direkt von der Schule angeheuert und im Job geschult. In anderen Raumfahrtbetrieben dominieren Facharbeiter und Personen mit Hochschulabschluss, das senkt natürlich die Kosten.

Auf entsprechenden Portalen häufen sich Beschwerden über Arbeitszeiten von 12 bis 14 Stunden pro Tag, Diskriminierung von Personen mit „spanischer“ Abstammung oder dunkler Hautfarbe.

Ein Pluspunkt oder Minuspunkt, je nachdem was als Ergebnis herauskommt, ist das eine „junge“ Belegschaft experimentier- und risikofreudiger ist und so eher neue Wege geht als in einer Firma, wo die Leute schon jahrzehntelang den Job machen. Das muss nicht immer positiv sein. So hat SpaceX zwischen dem ersten und zweiten Teststart das Stufentrennungsverfahren komplett geändert, die vorher über Jahr entwickelte erste Lösung muss sich beim ersten Teststart als so schlecht herausgestellt haben, dass man sie nicht versuchte zu verbessern, sondern gleich einstampfte. Die skurrilen Fehler bei diesen beiden Starts zeigen auch das man sich dort relativ wenige Gedanken um den Träger machte.

Damit wäre die Frage primär beantwortet. Es gibt aber noch einen Punkt und den halte ich für wichtig, wenn ich auf die europäische Weltraumindustrie komme.

Es ist die Frage der „garantierten Starts“. Für europäische Firmen bleibt der US-Regierungsmarkt verschlossen. Sprich: Startaufträge für die NASA, DoD, NRO und NOAA werden nur an US-Firmen vergeben. Letztes Jahr waren das 13 Starts. Mehr als doppelt so viele Starts wie Ariane 5 in ihren besten Jahren hatte. Alleine SpaceX hat nach NASA Angaben schon 12 Milliarden Dollar von der NASA erhalten, dazu kämen noch Zahlungen der anderen Regierungsbehörden, das entspricht den Kosten von rund 100 Ariane 6 Starts. Europäische Träger müssen ohne diese garantierte Auslastung zwangsläufig teurer sein. Zudem sind die ESA aber auch andere europäische Regierungen nicht besonders durchsetzungsfähig. Es gab in den letzten Jahren zahlreiche Starts von gemeinsamen Projekten von Europa und den USA die nur mit US-Trägern gestartet wurden, so Solar Orbiter oder JASAON-3 und Sentinel 6. Das ist nicht neu, das war schon früher so (SOHO). Die einzige Ausnahme dieser Praxis, die ich kenne waren TOPEX-Poseidon. Aber auch europäische Regierungen buchen lieber US-Anbieter, wenn diese billiger sind, so die BRD bei den SARAH-Radarsatelliten für die Bundeswehr.

Die Grundproblematik liegt in der Serienfertigung. Ariane 5 bedient einen Markt der wenige Starts pro Jahr benötigt, die eigenen ESA-Nutzlasten machen auch nur wenige Starts aus und das gilt auch für die Vega. Jede US-Firma kommt problemlos alleine durch Regierungsaufträge auf mehr Starts. Da hat man eine verlässliche Grundlage für die Serienfertigung und wenn man dann noch den einen oder anderen kommerziellen Start mitnimmt wird der Träger durch eine größere Stückzahl noch billiger. Daran wird sich auch nichts bei den Konstellationen ändern, weil Arianespace bei dem Amazon-Auftrag relativ wenige Starts gewonnen hat und Oneweb ist in der ersten Stufe schon im Orbit und ob es eine zweite Stufe gibt ist noch offen. Ob das EU-System IRIS² da was ändert? Ich glaube nicht.

Die Frage ist, was man dagegen tun kann? Meiner Ansicht nach wenig. Wird eine Rakete durch Finanzierung durch die ESA entwickelt, so greift das Prinzip des geografischen Rückflusses. Sprich: jede Nation die sich finanziell beteiligt (Trägerentwicklung gehört zu den Programmen die nicht verpflichtend für alle ESA-Mitglieder sind) bekommt Aufträge in der Höhe zurück, die sie an Mittel beisteuert. So kann man nicht die Rakete an nur einem Standort entwickeln, das wäre dann eine rein französische, italienische oder deutsche Rakete, kein ESA Projekt mehr.

Ariane 6 zielt als Nachfolger der Ariane 5 auf den Markt der geostationären Kommunikationssatelliten. Seit Ariane 1 sind alle Träger für diesen Markt entwickelt worden. Nun gibt es immer mehr Starts in den LEO für die Konstellationen, dafür hat die Rakete einfach zu viel Nutzlast, weil sie gleich zwei dieser GEO-Satelliten auf einmal transportieren kann. Diese Doppelstartfähigkeit war sehr lange ein Vorteil, es gab bei der Entwicklung der Ariane 6 eine kurze Diskussion ob sie nicht aufgegeben werden sollte, aber man entschied sich dagegen. Da Ariane 6 aus den gleichen Elementen wie die Ariane 5 ME besteht, bzw. der für sie geplanten Oberstufe, ist logisch, das sie auch die gleiche oder eine höhere Nutzlast hat. Für Konstellationen einsetzbar wäre die kleinere Version Ariane 62, die aber nicht viel billiger als die Ariane 64 ist weil nur zwei Feststoffbooster wegfallen.

Ich will an dieser Stelle nicht nochmal meine Meinung zur Ariane 6 kundtun, die findet man im Blog sehr schnell, wenn man nach „Ariane 6“ sucht. Aber da die Verspätungen absehbar waren, hätte man, wie man dies beim Übergang Ariane 4 zu Ariane 5 getan wurde, rechtzeitig noch ein Los des älteren Modells bestellen können, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Der klappte beim letzten Übergang, obwohl durch den gescheiterten Jungfernflug der Ariane 5G sich weitere Verzögerungen addierten.

Das Kernproblem ist, dass sich die ESA sich von dem Ziel verabschiedet hat, nach dem man Ariane entwickelt hat – um einen eigenen Zugang zum Weltraum zu haben. In den Siebziger Jahren wurden die ersten Kommunikationssatelliten in Europa konstruiert, doch diese dürften nicht kommerziell eingesetzt werden, sonst wären sie nicht von den USA transportiert worden. Das war die Triebfeder für die Entwicklung der Ariane 1. Das diese einmal so erfolgreich sein würde wie dies bei den nachfolgenden Modellen der Fall war, konnte niemand ahnen. Man hoffte auf einige Drittländeraufträge, denn auch andere Nationen waren von dem Verbot betroffen, so konstruierten damals Indien, Kanada, Indonesien und die arabische Liga ihre Satelliten bzw. ließen welche bauen. Das Dogma, Satelliten von Drittländern, die kommerziell genutzt werden, nicht zu starten, fiel dann als Ariane 1 operationell wurde, auch ganz schnell weg.

Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt, dass man in diesem Markt mitmischt und ein größeres Stück des Kuchens sichert. Ich meine, man sollte sich wieder auf den Zugang zum Weltraum beschränken. Das ist auch woanders der normale Zustand. Indien und Japan haben eigene Trägersysteme, starten aber meist nur eigene Nutzlasten. Bei Russland ist es nun auch wieder so nach einem kommerziellen Erfolg um die 2000-er Jahre und die US-Träger werden von der Regierung explizit für diesen Zweck gefördert.

Ich höre an der Stelle auf und gehe im nächsten Teil etwa genauer auf die Problematik der Alane 6 und ihre Entwicklung ein.

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