C12H22O11

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Ich höre seit einigen Monaten anstatt der üblichen Playlist die Hitparaden des SWR1 aus den letzten Jahrzehnten. Für alle die diesen Sender nicht kennen: der SWR, damals noch SDR hat 1989 eine Weltrekord-Nonstop-Hitparade gemacht, die Top 1000 X. Das kam so gut an das es in den folgenden Jahren zu weiteren Hitparaden kam: deutschlandweit, europaweit und dann nochmal 1998 zum Zusammenschluss von SWF und SDR zu SWR. Seit etwa 15 Jahren gibt es die Hitparade nun regelmäßig einmal im Jahr immer im Oktober. Von Montag 5:00 bis freitags 21:00 werden 1000+ von den Hörern gewählte Songs nach ihrer Platzierung gespielt.

Für mich hat das den Vorteil, dass das Programm sehr abwechslungsreich ist, es kommt ja ein Titel selten doppelt vor (kommt aber vor, wenn es Covers gibt oder eine Live/Studioaufnahme) und man hat auch ein Wiederhören mit Moderatoren die inzwischen in Rente sind, oder gar verstorben. Man bekommt aber auch die Werbespots mit und zwar öfters als einem lieb sein kam. Mir fiel folgender Werbespot auf:

An dem kann man schon etwas kritisieren. Also wenn ich Wasser in den gasförmigen Zustand überführe, dann habe ich Wasserdampf, aber daraus kann ich keinen Tee machen, besser wäre es um 80 K zu erhitzen. Als Chemiker stolpere ich aber über die Zugabe von „C12H22O11“. Klar, das ist die Summenformel von Saccharose, aber wie jeder Lebensmittelchemiker weiß, ist es die Summenformel jedes Disaccharids das aus zwei Einfachzuckern (Monosaccharide) mit je 6 Kohlenstoffatomen besteht. Also auch der Maltose oder Lactose, als weiteren häufig vorkommenden Disacchariden.

Ich habe mich gefragt „Wie viele Isomere, nur unter den Kohlenhydraten gibt es?“. Das ist schon ein Bruchteil der Isomere, denn anders als bei H2O wo es nur eine Verbindung gibt, gibt es für C12H22O11 wahrscheinlich Hunderte bis Tausende Isomere, wenn man alle berücksichtigt also auch Ketone, Aldehyde, organische Säuren, Ether, Ester, zyklische Verbindungen …

Aber bevor ich anfange zu rechnen, muss ich etwas Grundlagenwissen vermitteln, das wahrscheinlich nicht in der Schule vermittelt wurde. Ich habe in meinem alten Schulbuch bei den Kohlenhydraten nachgeschlagen und es erwähnt, aber nicht erklärt gefunden.

Bei einem Kohlenstoffatom mit vier Einzelbindungen (also keinen Doppel- oder Dreifachbindungen) gehen die Bindungen in Form eines Tetraeders vom Atomkern ab, das ist eine dreiseitige, gleichseitige Pyramide mit einem Winkel von 109,5 Grad zwischen den Bindungen. Wenn man bei einem Kalottenmodell, wie es in der Schule ja vielleicht noch vorhanden ist, dann mal vier verschiedene Fremdatome anbaut, wird man feststellen, dass es genau zwei Anordnungsmöglichkeiten gibt, die sich wie Bild und Spiegelbild oder linke und rechte Hand verhalten, also gleich aussehen, aber nicht zur Deckung zu bringen sind. Man spricht daher in der Chemie von Chiralität, das leitet sich vom griechischen Wort für „Hand“ ab.

In der Chemie werden die beiden Isomere als R- und S-Formen bezeichnet, bei Kohlenhydraten und anderen Biomolekülen hat sich aber die ältere D- und L-Nomenklatur gehalten, die vielleicht noch jemand von der L-Ascorbinsäure kennt. Die beiden Isomeren werden als Enantiomere bezeichnet. Kohlenhydrate haben ab 5 C-Atomen mehrere Stereozentren und solche Moleküle werden als Diastereomere bezeichnet. Ein Stereozentrum liegt vor, wenn der davon abgehende Rest (nicht nur das nächste Atom an der Bindung) sich von allen anderen drei Resten unterscheidet.

Die Natur hat übrigens eine Vorliebe für eine bestimmte räumliche Anordnung entwickelt. So haben alle Aminosäuren die L-Form, alle Einfachzucker dagegen die D-Form. Die jeweils anderen Formen kommen in der Natur nicht vor, können aber synthetisch hergestellt werden. Beim Stoffwechsel wirken oft nur die Formen, die durch Biosyntheseprozesse gebildet oder abgebaut werden und die andere Form ist unwirksam, kann sogar giftig sein. Bei Synthesen entstehen dagegen immer beide Formen in gleicher Menge, so L- und D-Ascorbinsäure. Als Vitamin C ist nur die L-Form wirksam, als Radikalbinder (Lebensmittelzusatzstoff) dagegen auch die D-Form. Oder ich als Pollenallergiker schlucke bei Beschwerden Levocetirizin. Das ist die biologisch aktive Form, synthetisch hergestellt wird eigentlich Cetirizin, das die R- und S-Form enthält. Wird aus dem Gemisch dann die R-Form isoliert, so spricht man vom Levocetirizin, dann braucht man nur die halbe Menge, weil die S-Form unwirksam ist.

So nun komme ich zu den Kohlenhydraten zurück. Zuerst sollte ich mal definieren, was ein Kohlenhydrat ist: Per Definition ist ein Kohlenhydrat eine Verbindung, die sich vom Glycerinaldehyd oder Dihydroxiketon ableitet, indem die Kette um jeweils eine CHOH Gruppe verlängert wird. Jede CHOH Gruppe erzeugt dabei ein weiteres asymmetrisches Kohlenstoffatom (chirales Zentrum) und verdoppelt so die Anzahl der Isomere. Die kleinsten Kohelnhydrate haben vier Kohlenstoffatome, obwohl auch der Glycerinaldehyd ein asymmetrisches Kohlenstoffatom hat. Mir sind beim Studium nur die Kohelnhydrat-Verbindungen mit fünf und sechs Kohlenstofftatomen begegnet. Verbindungen mit 5- C Atomen sind Bestandteil von Coenzymen (ATP, NADH) der RNA und DNA. Aus 6 C-Atomen (Hexosen) bestehen die Speicherkohlenhydrate von Pflanzen aber auch ihre Gerüstsubstanz (Stärke, Zellulose etc.). Es gibt in bestimmten Lebensmitteln auch Kohlenhydrate mit sieben, acht oder neun Kohlenstoffatomen.

So nun spätestens müssen Formeln kommen, das ist eines der Kohlenhydrate mit 6 C-Atomen in der Fischer Darstellung:

Alle anderen unterscheiden sich darin, wie die OH-Gruppen angeordnet sind. D-Glcuose z.B. hat als einzigen Unterschied zur D-Allose, das die OH Gruppe am C3 nach links schaut. Bei vier chiralen Zentren gibt es 16 Isomere, diese reduzieren sich auf 8, da man die D- und L-Isomere nicht mit eigenem Namen kennzeichnet. Nacheinander (jeweils Wechsel der Position von C2 bis C5) sind dies: Allose, Altrose, Glucose, Mannose, Gulose, Idose, Galactose und Talose.

Dies sind die 8 Isomere bei denen die Aldhydbindung am C1 sitzt. Es gibt als Isomere aber auch noch die Möglichkeit das die Doppelbindung zum Sauerstoff an C2 oder C3 steckt, das ist dann ein Keton. Entsprechend spricht man von Aldosen und Ketosen. Das bekannteste Keton mit sechs C-Atomen ist die Fructose:

Andere Isomere der C2 Ketose sind die Piscose, Sorbose und Tagatose. Es sind nur vier, weil durch das Verschieben der Ketobindung von C1 auf C2 das C1 zwei Wasserstoffatome bekam und so nicht mehr chirales Zentrum ist, C2 aber auch nicht, weil es keine vier sondern nur drei Reste trägt. Es gibt aber noch vier Hexulosen mit der Doppelbindung am C3, man fand allerdings keine davon in der Natur, daher haben sie keine Namen. Ab C4 würde man das Molekül von der anderen Seite aus durchnummerieren und käme so wieder auf C3.

Zwischenstand: Der Einfachzucker (Monosaccharid) mit 6 C-Atomen als ein Bestandteil des ominösen „C12H22O11“ kann entweder aus einer Aldose bestehen oder einer Ketose. Es gibt acht Aldosen und vier Ketosen in der Natur, jeweils noch als D- oder L-Form, zusammen also 24 Isomere.

Es wird noch komplizierter, wir reden ja von Chemie und nicht Raketenwissenschaft. Diese Darstellung nach Fischer ist eine schöne Darstellung aber sie gibt nicht die Wirklichkeit wieder. In dieser offenkettigen Form befindet sich nur ein kleiner Anteil der Kohlenhydrate in einer wässrigen Lösung. Als eine Aldolreaktion kann die Ketogruppe mit einem Alkoholrest desselben Moleküls unter Ringbildung reagieren. Als Reaktionspartner kann jede Alkoholgruppe fungieren, davon gibt es ja fünf pro Molekül. Aus kinetischen Gründen scheiden aber Ringe mit weniger als sechs Atomen im Ring und mehr als sechs Atomen aus, weil die Bindungswinkel dann zu stark von dem Tetraederwinkel von 109 Grad abweichen. Es sind pro Molekül aber entweder ein Fünfring oder ein Sechsring möglich. Was gebildet wird, ist stark von dem Kohlenhydrat abhängig. Im allgemeinen sind die Sechsringe häufiger in der wässrigen Lösung anzutreffen als die Fünfringe. Da ein zyklischer Ether (Sauerstoffatom im Ring) mit fünf C-Atomen als Pyran bezeichnet wird und der zyklische Ether mit vier C-Atomen als Furan bezeichnet man die entsprechenden Kohlenhydrate als Pyranosen und Furanosen. (Hier am Beispiel der α-D-Glucose)

Kleines Detail am Rande: Fructose wird meist als Furanose abgebildet, wie ich beim nachschauen in den Belitz-Grosch, dem Standardlehrbuch für Lebensmiteilchemie sah, liegt sie in wässriger Lösung aber auch zu 60 Prozent als Pyranose und nur zu 40 Prozent als Furanose vor.

Es wird noch etwas komplizierter. Durch die Ringbildung wird das Kohlenstoffatom, das die Doppelbindung zum Sauerstoff trug, ebenfalls zu einem chiralen Zentrum, es gibt also zwei weitere Konfigurationen, die man nun nicht mit eigenen Namen, sondern den griechischen Buchstaben Alpha (α) und Beta (β) kennzeichnet. Nun haben wir also schon 48 Isomeren. Zusammen mit der Wahlmöglichkeit zwischen Fünf- und Sechsring sind es 96. Allerdings gehen diese in wässriger Lösung ineinander über, sodass man ein Gemisch aus α/β und Furanose und Pyranose hat, so bleibt es bei den 24 Monosacchariden.

Die Monosaccharide sind die Elementarbausteine. Enzyme verknüpfen einzelne Monosaccharide zuerst zu den Disacchariden die aus zwei Monosacchariden bestehen und dann längeren Ketten, den Polysacchariden. Bei der Verknüpfung von je zwei Molekülen wird ein Wassermolekül abspaltet, sodass aus der Summenformel C6H12O6 für ein Monosaccharid die Summenformel für das Disacharid C12H22O11 wird – voilà, das, was das Kind da zitiert hat.

Rein theoretisch kann nun jede der 24 Monosaccharide mit einem anderen reagieren, sodass wir auf 24 x 24 = 576 mögliche Isomere kommen. Daneben kann die Verknüpfung über jede Alkoholgruppe erfolgen und davon gibt es fünf. Ein Atom steht aber immer fest, die Verknüpfung geht von der -OH Gruppe aus, die neu aus der Ketogruppe entstanden ist. Das lässt dann aber trotzdem noch 2.880 Isomere übrig. Real kommen bei zwei Pyranosen eine Verknüpfung zwischen C1 und C4 und bei einer Pyronose und einer Furanose zwischen C1 und C2 vor. In verzweigten Polysacchariden auch noch die Verknüpfung zwischen C1 und C6. Andere Bindungstypen kann der Mensch auch nicht mit einen Enzymen aufspalten.

Doch ich gebe zu, das ist hypothetisch. Praktisch findet man in reiner Form – nicht als Abbauprodukten von längeren Polysacchariden in Lebensmitteln nur drei Disaccharide:

  • Lactose aus einem Molekül Galaktose und einem Molekül Glucose (1-4 verknüpft)
  • Saccharose aus einem Molekül Fructose und einem Molekül Glucose (1-2 verknüpft)
  • Maltose aus zwei Molekülen Glucose (1-4 verknüpft)

Lactose ist der Milchzucker und kommt natürlich in größerer Menge (5 Gewichtsprozent) in Milch vor. Saccharose ist das was wir als Haushaltszucker kennen, kommt außer im Zuckerrohr und Zuckerrüben in der Natur aber eher selten vor. Bananen enthalten relativ viel Saccharose.

Maltose kommt nicht einzeln in der Natur vor sondern ist ein Spatprodukt von Stärke. Dadurch findet man ihn aber häufig in Lebensmitteln, so überall dort wo Malz eingesetzt wird wie Malzbonbons.

Es gibt aber noch synthetische Zucker, die als Zuckerersatzstoffe verwendet werden.Von wehrwirtschaftlicher Bedeutung sind die Isomaltose (zwei Glucosemoleküle verknüpft, aber nicht über 1-4, sondern 1-6) und die Isomaltulose (ein Glucose und ein Fructosmolekül, ebenfalls 1-6 verknüpft und nicht 1-2 wie bei der Saccharose). Diese Verbindungen werden vom Körper in die Monosaccharide gespalten, doch da unser Enzymsystem nicht auf diese Zucker eingestellt ist, geht dies langsamer vor sich, was für Diabetiker von Vorteil ist, weil so der Blutzuckerspiegel langsamer ansteigt. Wikipedia kennt , insgesamt 18 natürlich vorkommende Disaccharide. Diese geringe Zahl ergibt sich daraus das immer einer der Reaktionspartner Glucose ist. Das Glucose der Starter ist gilt auch für Polysaccharide, so besteht Inulin das Reservekohlenhydrat der Süßkartoffel Topinambur zwar aus Fructoseeinheiten, aber die werden an ein Saccharosemolekül, das mit einem Glucosemolekül beginnt, angehängt.

Ich vermute mal, das Kind meinte mit C12H22O11 die Saccharose, denn sie ist auch der Zucker mit der zweithöchsten Süßkraft pro Gramm, nur Fructose ist noch etwas besser. Maltose, Isomaltose und Isomaltulose haben etwa die halbe Süßkraft von Saccharose, Lactose nur etwa 20 Prozent der Süßkraft. Es werden auch andere Werte genannt, das ist stark abhängig von der Konzentration, bei der bestimmt wird, aber eines ist relativ klar: keines der anderen Isomere von C12H22O11 hat auch nur annähernd die Süßkraft der Saccharose und sie sind auch allesamt teurer.

Wenn das Kind übrigens wirklich schlau wäre, dann würde es die korrekte chemische Bezeichnung nehmen, da man die Nomenklatur vom Glucose- oder Fructosemolekül aus machen kann wären dies : α-D-Glucopyranosyl-(1-2)-β-D-fructofuranosid oder β-D-Fructofuranosyl-α-D-glucopyranosid. Mir ist aus dem Studium die erste Bezeichnung also α-D-Glucopyranosyl-(1-2)-β-D-fructofuranosid die geläufigere. Doch daran hätte sich das Kind wohl einen Zungenknoten geholt.

Kleiner Scherz am Rande: Woran erkennt man einen echten Chemiker? Daran dass er mit 1 Promille Blutalkohol immer noch fehlerfrei „Desoxyribonukleinsäure“ aussprechen kann…

3 thoughts on “C12H22O11

  1. Oh Mann, ich muß zugeben das ist über meinem Zuckerrand :-),
    Gottseidank hast Du nur die einfachen Zucker beschrieben, die in der Werbung vorkamen.

    Stell Dir vor, Du würdest die Chemie von Seitenbacher–was auch immer beschreiben!

    Grinst Ralf mit Z

  2. Hallo Bernd, kann es sein das Deine Antwort auf meinen 1. Kommentar
    irgendwo hängen geblieben ist?
    Er wird angezeigt aber es gibt ihn nicht.

    Ralf mit Z

    1. Ich hatte ihn zuerst falsch gepostet und dann verschoben, das scheint nicht geklappt zu haben. Hier nochmal der Kommentar:

      Ich habe ja nur die Nomenklatur der Einfachsaccharide und Disaccharide besprochen, auf die Chemie bin ich ja nicht mal eingegangen, da gäbe es noch einiges zu sagen, ein paar Stichworte nur mal in die Runde geworfen: Halbacetale, Lactone, glykosidische Bindung, Amadori-Umlagerung …

      Aber heute/morgen gehts weiter mit CnH2nOn …

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