Die SSME: Die Vorgeschichte
1972 wurde die Entwicklung des Space Shuttles beschlossen. Schon vorher gab es aber die Entwürfe für das Triebwerk. Nachdem bei den ersten Entwürfen die man 1969 für das spätere Space Shuttle hatte, noch das J-2 als Triebwerk ins Auge gefasst war, ging man rasch zu einem neuen neuen Triebwerk über. Der Grund war, dass neben der Nutzlast auch der Orbiter eine Umlaufbahn erreichen sollte. Wenn das Gefährt für diese hohe Nutzlastmasse nicht riesig sein sollte, musste das Triebwerk sehr viel leistungsstärker als das J-2 sein. Sehr bald wurde auch klar, das es schubstärker sein musste. Die Effizienz eines Triebwerks wird darin gemessen, wie schnell die Gase die Düse verlasen. Diese Ausstromgeschwindigkeit ist ein gutes Maß für die Treibstoffausbeute. Beim J-2 betrug sie bei den letzten Serienexemplaren 4216 m/s. Ein schon entwickeltes Upgrade, das J-2S versprach die Ausströmgeschwindigkeit auf 4275 m/s zu steigern. Erkauft wurde dieser kleine Anstieg mit einer Erhöhung des Brennkammerdrucks von 50 auf 82 Bar. Das SSME sollte 4480 m/s erreichen. Dafür musste der Brennkammerdruck auf 220 bar erhöht werden.
Das war mit dem bisherigen Design nur schwer zu erreichen. Bisher bauten die USA große Triebwerke nach dem Gasgeneratorprinzip: ein Teil des Treibstoffs und Verbrennungsträgers wird vom Hauptkreislauf abgetrennt und ein einer separaten Brennkammer, dem Gasgenerator verbrannt. Das erzeugte Gas treibt dann eine Gasturbine an, die ihre Kraft auf eine Turbopumpe überträgt, welche wiederum den Druck liefert, um den Treibstoff in die Brennkammer gegen den dort herrschenden Brennkammerdruck zu pressen. Je höher der Brennkammerdruck ist, desto mehr Gas wird für den Gasgenerator benötigt, um diesen Druck aufzubauen. Jenseits eines Optimums braucht man mehr Gas für den Gasgenerator, als man Treibstoff durch den höheren spezifischen Impuls (=Ausströmgeschwindigkeit der Gase beim verlassen der Düse) einspart. Dies ergibt sich daraus, dass beim Gasgeneratorprinzip das Arbeitsgas mit einem „Auspuff“ neben dem Triebwerk entlassen wird. Manchmal nutzt man es auch um die Düse zu kühlen oder das Triebwerk zu schwenken bzw. die Rakete zu rollen, aber im wesentlichen ist dieser Anteil des Treibstoffs nicht nutzbar. Das Gasgeneratorprinzip hat den höchsten Wirkungsgrad bei etwa 90-100 Bar Brennkammerdruck, bei höheren Drücken fällt die Effizienz stark ab.
Mit dem Gasgeneratorschema war das SSME mit seinen 220 Bar Druck also nicht umsetzbar. Die Lösung lag in einem anderen Antriebsverfahren, das theoretisch seit den fünfziger Jahren untersucht wurde. Das „staged Combustion“ Verfahren. (Eine deutsche Übersetzung ist unüblich, aber mögliche wären „gestaffelte oder gestufte Verbrennung“). Bei diesem wird der Treibstoff zweimal verbrannt: zuerst ein Teil in einem Vorbrenner, bei dem nur ein Teil des Treibstoffs umgesetzt wird. Er erzeugt das Arbeitsgas unter hohem Druck, das Turbine und Turbopumpe antreibt und den Rest des Treibstoffs fördert. Danach wird dieses Gas mit dem Rest des Treibstoffs in die Brennkammer eingespritzt und nochmals verbrannt. Wie beim Gasgenerator ist im Vorbrenner die Mischung oftmals reicher an einer der beiden Komponenten, um die Temperaturen zu begrenzen. Beim SSME ist sie reich an Wasserstoff.
Das staged Combustion Verfahren ist ein Hauptstromverfahren, bei dem der Treubstoff vom Tank zum Triebwerk nur einen Strom hat, der das ganze Triebwerk passiert. Das Gasgeneratorverfahren dagegen ein Nebenstromverfahren, bei dem sich ein Treibstofffluss vom Hauptstrom abspaltet und nicht die Brennkammer passiert Die NASA hatte schon Erfahrungen mit dem Hauptstromverfahren, allerdings nach einem anderen Prinzip, dem des Expander Cycle. Bei ihm gibt es gar keinen Vorbrenner oder Gasgenerator, sondern die Hitze der Brennkammer wird genutzt, um den Treibstoff in den gasförmigen Zustand zu überführen und damit die Turbine anzutreiben. Nach dem Expander-Cycle wurde von 1956 an das RL-10 konstruiert. Seine Entwicklung war sehr langwierig und teuer und es gab zahlreiche Probleme zu lösen. Das sollte ein Vorgeschmack zum SSME sein.
Die Herausforderung beim Design lag weniger daran, dass viele Parameter um ein vielfaches höher als bei anderen Triebwerken waren, so waren die Drücke höher, die Abmessungen der Brennkammer aber kleiner, der Kühlungsbedarf daher höher etc., sondern das das Gesamtsystem sehr eng verzahnt war. Bei einem Triebwerk nach dem Gasgeneratortriebwerk konnte man das Triebwerk in einzelne Baumgruppen aufteilen, die man separat konstruieren konnte, wie Turbopumpe, Gasgenerator, Brennkammer, Düse, Injektoren etc. Veränderungen an einem System machten zwar oft Anpassungen an anderen nötig, doch diese hielten sich in Grenzen, man konnte sogar Baugruppen auswechseln. So erhielt das J-2S im Rahmen des Constellation Programms die Turbopumpe eines Aerospike Triebwerks und eine neue verlängerte Düse. Astrium bot der ESA ein Aestus Triebwerk mit einer Turbopumpe von Rocketdyne an. im Original war das Triebwerk nur druckgefördert.
Bei Hauptstromtriebwerken geht das nicht. Die Minderleistung oder veränderten Leistungsdaten eines Systems schlagen auf das Gesamtsystem durch. Ohne Computer brauchte man sehr viele Iterationen um das Design wieder und wieder zu verfeinern bis es funktionierte. Diese Iterationen absolvierte man beim RL-10, weshalb seine Entwicklung auch so langwierig wurde. Als man das SSME entwarf, Anfang der siebziger Jahre war es aber schon möglich die Entwürfe vom Computer durchrechnen zu lassen. Nicht in der Detailliertheit wie heute, doch die wichtigsten Designparameter konnte man so festlegen. Den Rest musste man bei den Tests herausfinden.
Die Entscheidung über die Vergabe des Auftrags der Triebwerksentwicklung erfolgte schon vor der endgültigen Genehmigung. Damals hatten die USA drei Firmen die auch größere Triebwerke herstellten (sowie einige kleinere die jedoch nur Vernier-Triebwerke oder Satellitentriebwerke produzierten). Dies waren Aerojet, Rocketdyne und Pratt & Whittney (P&R). Aerojet legte kein Angebot vor. Die Firma hatte die Triebwerke für die Titan I-III entwickelt. Mit Ausnahme der Triebwerke für die Titan I waren dies aber alle Triebwerke die NTO mit UDMH verbrennten. Triebwerke die diesen Treibstoff nutzten, stammten fast nur von Aerojet. So produzierte die Firma die Delta Oberstufe und den Antrieb für das Servicemodul des Apollo Raumschiffs. Aerojet bekam aufgrund dieser Kompetenz daher auch den Auftrag für die OMS Triebwerke des Orbiters,
Die beiden anderen Firmen waren Rocketdyne und Pratt & Whittney. Rocketdyne konnte die größte Erfahrung vorweisen. Die Hauptantriebe der Delta, Atlas und Saturn Trägerraketen stammten von der Firma. Sie hatten für die Saturn das F-1 und J-2 Triebwerk entwickelt. Doch sie hatten keinerlei Erfahrung mit Triebwerken die das Hauptstromverfahren einsetzten.
Diese konnte Pratt & Whittney aufweisen. Sie war die kleinste der drei Firmen. Pratt & Whittney war und ist einer der größten Hersteller von Strahltriebwerken. Die Abteilung die Raketentriebwerke produzierte, hatte eigentlich nur ein einziges Triebwerk entwickelt: Das RL-10. Doch dieses hatte es in sich. Es war das einzige US-Triebwerk, das das Hauptstromverfahren einsetzte, wenn auch nicht das Staged Combustion Verfahren. Pratt & Whittney kannte daher die Probleme die beim Einsatz dieses Verfahrens in der Entwicklung entstehen. Das RL-10 lag in Effizienz, wie auch erreichtem spezifischen Impuls, als Maß für die Treibstoffausbeute, näher am Zielwert des SSME (4480 m/s) als jedes andere Triebwerk (das RL-10 hatte 4356 erreicht). Pratt & Whittney hatten auch ein Triebwerk nach dem Prinzip des SSME im Design fertiggestellt, das war das XLR-129 mit 250.000 Pfund Schub. Das SSME sollte damals als die Ausschreibung begann (Oktober 1969) 350.000 Pfund Schub aufweisen. Das XLR-129 hätte man auf dieses Schublevel steigern können. P&R war also im Vorteil seitens der Erfahrungen und eines schon vorliegenden Prototyps.
Die NASA musste sich zwischen den beiden Firmen entscheiden. Beide legten Entwürfe ein. Rocketdyne bemühte sich stärker um den Auftrag. Entscheidend war aber ein technisches Detail im Design. Pratt & Whittney sah einen Vorbrenner für Sauerstoff und Wasserstoff vor, Rocketdyne jeweils einen für Sauerstoff und Wasserstoff. Obgleich dies mehr Komplexität bedeutete, beurteilten die NASA Experten dies als vorteilhafter. Das SSME sollte im Schub reduzierbar sein, und die Möglichkeiten dafür sind bei einem Vorbrenner geringer als bei zweien. Zwei Vorbrenner erlaubten eine feinere Kontrolle. So gewann Rocketdyne den Kontrakt, auch weil der Schub nach Wechsel des Designs für das Shuttle höher sein musste: 470.000 Pfund. Da nützten die Vorentwicklungen von P&R beim XLR-129 auch nichts mehr. Für ein doppelt so schubstarkes Triebwerk musste auch P&R von vorne anfangen.
Allerdings wollte die NASA bei ihrer ersten Ausschreibung am 21.4.1971 noch andere Triebwerke: Sie sollten zwei vollständig wiederverwendbare, beide geflügelte und bemannte Stufen antreiben. Die Startstufe mit 12 Triebwerken von 550.000 kN Schub und den Orbiter mit drei Triebwerken von 632.000 kN Schub. Beide verwandten dasselbe Triebwerk, aber der Orbiter hatte eine an den Vakuumbetrieb angepasste Düse, weshalb der Schub höher war. Rocketdyne nahm die Ausschreibung gründlich und lieferte 100 Bücher ab – eines mit der Zusammenfassung, sieben mit der Technischen Beschreibung und der Rest waren Detailausfertigungen. Sie füllten ein 1,50 m breites und hohes Regal mit drei Zwischenböden.
Mit dem Wechsel auf das heutige Konzept änderten sich die Anforderungen, doch das Rocketdyne Konzept konnte so abgeändert werden, dass es auch 470.000 Pfund Maximalschub hatte. Am 5.4.1972 bekam Rocketdyne den endgültigen Auftrag. Die Anforderungen wurden aber noch dreimal geändert:
- Ursprünglich sollten die Triebwerke eine Lebensdauer von 27.000 s aufweisen was 100 Missionen entsprach. Davon waren sechs mit 109% Schub definiert. Nach einer NASA Anforderung blieb die Lebensdauer bei 27.000 s, aber nur 55 Missionen, dafür dauerhaft im 109% Niveau. (Die Differenz der Missionen bei gleicher Betriebsdauer erklärt sich daraus, dass für die Lebensdauer nicht nur die Betriebsdauer wesentlich ist, in der das Triebwerk in einem stabilen Zustand ist, sondern auch das Anlassen und Abschalten wo die Komponenten erhöhtem Stress ausgesetzt sind).
- Das Triebwerk sollte ursprünglich mit einem Mischungsverhältnis von 1: 5.5 bis 1:6.5 zurechtkommen, später wurde dies auf 5,8 bis 6,2 zu 1 reduziert und zuletzt fallengelassen, sodass das Triebwerk immer mit 6 zu 1 arbeitet.
- Mit dem Vorliegen der endgültigen Aufstiegsbahn im Frühjahr 1978 lag auch der benötigte minimale Schub vor. Vorher sollte das Triebwerk im Schub bis auf 50% herunterregelbar sein. Nun war nur noch eine Reduktion auf 65% erforderlich.